Robert Wuttke: Stand und Wachstum. 173
Staates. Innerhalb Sachsens lassen sich bis in die Gegenwart solche
Gegensätze verfolgen, deren Ursprung in der ersten Besiedelung des Landes
zu suchen ist. Man vergleiche nur die Lausitz mit dem Vogtlande und dem
Erzgebirge. Und ganz dasselbe läßt sich von den Städten sagen; auch bei
ihnen bindet die Vergangenheit die Gegenwart. Wer sich heute z. B. auf
den Markt in Dresden stellt, sieht die Straßen in ihm ebenso einmünden,
wie sein Vorfahr vor siebenhundert Jahren. Damals bei der planmäßigen
Anlage der Stadt hat man wahrscheinlich mit einer Bevölkerung von
4000 Einwohnern gerechnet, heute hat sich ihre Zahl verhundertfacht und
immer noch drängt sich auf demselben Raum der Verkehr zusammen und
wird in einen Rahmen hineingepreßt, den unsere Vorfahren für nach unseren
Begriffen kleinliche, ärmliche Verhältnisse geschaffen hatten.
Nur die geschichtliche Betrachtung erschließt uns das Verständnis für die
Gegenwart. Sie zeigt uns, wie wir in unserm Denken und Handeln,
meist uns selbst völlig unbewußt, von der Vergangenheit beeinflußt sind.
Wir wohnen in einem alten Gebäude, jede Generation hat versucht nach
ihrem Geschmack darin Veränderungen vorzunehmen; der Grundriß, der Auf-
bau ist aber durch Jahrhunderte derselbe geblieben. Träumer wollen das
Gebäude einreißen, von Grund aus neu aufführen, sei es nach ihrem eignen
Geschmack, sei es nach den von ihnen behaupteten Bedürfnissen der Gegen-
wart. Ein solches Verfangen ist Wahnsinn; es würde mit der Vernichtung
des Besten unseres Volkes, mit seiner Eigenart, enden.
Für unsere Darstellung können wir die sächsische Geschichte in folgende
drei Abschnitte gliedern: erstens von der germanischen Besiedelung bis zur
Reformation; zweitens von der Reformation bis zur Begründung des nord-
deutschen Bundes; drittens unter dem Deutschen Reich.
Die erste Periode wird durch zwei wichtige Ereignisse charakterisiert:
durch den Zusammenschluß der eingewanderten deutschen Stämme und
ihre Vermischung mit den übrig gebliebenen Slawen und die sich daraus
ergebende sächsische Volksart, ferner durch die Urbarmachung und Besiede-
lung des gesamten verfügbaren Landes.
Wenn wir über ein Volk sprechen oder seine Eigenschaften untersuchen
wollen, so stellen wir uns das Volk nicht aus einzelnen Individuen zu-
sammengesetzt vor, sondern es erscheint uns als Einheit. Nur wenn wir
so verfahren, können wir Volk mit Volk, Stamm mit Stamm vergleichen
und die besonderen Eigentümlichkeiten erkennen. Daß die Menschen sich nicht
nur als Einzelwesen untereinander unterscheiden, sondern daß auch die
Völker sich gegenseitig abgrenzen, ist erst verhältnismäßig spät den Menschen
zum Bewußtsein gekommen. Die einzelnen Nationen mußten schon längere
Zeit in geschichtlicher Gemeinschaft gelebt und eine hohe Stufe der Kultur er-