Full text: Sächsische Volkskunde.

222 Robert Wuttke: Die Bevölkerungsgliederung. 
wickelung seiner geistigen und politischen Kräfte bedeutungsvoll und der 
Kampf um die jeweiligen Zeitanschauungen wird von der Besetzung der 
einzelnen Altersklassen erheblich beeinflußt werden. 
Die Jugend fragt nicht, was ist das Bessere, sondern was ist das Neue, 
sie verläßt sich noch ganz auf ihre Individualkraft, und sie glaubt an das 
Sprichwort: ein Jeder ist seines Glückes Schmied. 
Ganz anders empfindet das gereifte Alter, die schaffende Generation. 
Sie will das Erlernte anwenden und verwerten, an Neues tritt sie prüfend 
heran und das Alte will sie erhalten so lange es geht. Während die heran- 
wachsende Generation kühn in die Zukunft blickt und von ihr alles erhofft, 
rechnet der wirtschaftlich Thatige mit dem Bestehenden, er baut auf der 
Vergangenheit auf. 
Das Greisenalter rückt aus dem Erwerbsleben heraus, aber in dem 
geistigen und sittlichen Leben des Volkes steht es mitten drin; es bildet die 
sichtbare Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft und ist somit ein 
notwendiger Bestandteil eines gesunden Volkskörpers. 
In Sachsen überwiegt nun, wie wir geseben haben, die jüngere Alters- 
schicht die Jugend und das erste Mannesalter, dagegen ist die höhere Alters- 
schicht schwach besetzt; kein deutscher Staat zählt unter seiner Bevölkerung 
verhältnismäßig so wenig Greise über 60 Jahre wie Sachsen. Diese eigen- 
tümliche Altersgliederung kann nicht ohne Rückwirkung auf das Volksleben 
bleiben. 
Die starke Jugendkraft Sachsens befähigt es eine hohe Stellung im 
nationalen Wirtschaftsleben einzunehmen; leicht vermag es sich jeder Ver- 
änderung im Weltmarkte anzupassen, und stets findet etwas Neues den 
Beifall der Menge. Eng damit verknüpft ist aber das Fehlen jedes historischen 
Sinns; das Vergangene erfreut sich keiner besonderen Hochschätzung; die über- 
kommenen Sitten werden als nicht mehr zeitgemäß abgestreift. Gegen solche 
geistige Strömungen besitzt eine Bevölkerung sonst in seinem Greisenalter ein 
natürliches Gegengewicht. Sachsen fehlt dies Gegengewicht, und mehr als in 
anderen deutschen Staaten verdrängt deshalb hier die Gegenwart die Ver- 
gangenheit. 
Der Altersaufbau des sächsischen Volkes fordert noch zu einer anderen 
Betrachtung auf. Für die nationale Kraft eines Volkes ist das Verhältnis 
von Ausbildungs= oder Lernzeit, zur Schaffungs= oder Arbeitszeit und zur 
Ruhezeit im Greisenalter wesentlich. Da es nun nicht in die Macht der 
Menschen gegeben ist, die Lebensdauer willkürlich zu verlängern, so muß 
auch ein Volk bei Bemessung der Bildungszeit Rücksicht auf die jedem Einzelnen 
durchschnittlich zukommende Lebenszeit nehmen. Wird der Abschluß der 
Erwerbsbildung in ein höheres Alter hinaufgelegt, so muß dementsprechend 
das Erwerbsalter gekürzt werden, denn der Mensch, der mehr Jahre als man
	        
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