Full text: Sächsische Volkskunde.

Robert Wuttke: Verbrechen und Selbstmord. 233 
Preußen etwas über den Reichsdurchschnitt; die Abweichung vom Mittel 
innerhalb der deutschen Bundesstaaten ist recht erheblich. 
Wie erklärt sich der überaus hohe Anteil Sachsens an dieser Gruppe? 
Ist die Ursache in einem besonders gewaltthätigen Sinn der Bevölkerung 
und der Verachtung staatlicher Macht, oder in einem allzuleichten Eingehen 
der höheren Behörden auf die Darstellungen der unteren Polizeiorgane zu 
suchen? Wer das sächsische Volk kennt, und unsere Untersuchung wird es 
bestätigen, weiß, daß unsere einheimische Bevölkerung nicht zu Ausschreitungen 
neigt, wohl aber die zahlreichen Fremden, und ferner wird Jeder, der einige 
Erfahrung als Schöffenrichter gesammelt hat, beobachtet haben, welch außer- 
ordentliche Empfindlichkeit und Feinfühligkeit die sächsischen Polizisten besitzen 
bei allem, was gegen sie gesagt und gethan wird. 
Einen tiefen Einblick in das sittliche Leben gewähren die Zahlen der wegen 
Unzucht und Notzucht Verurteilten; leider haben sie in den letzten Jahren 
nicht ab= sondern zugenommen; die Höchstziffer zeigt Baden, Sachsen kommt 
an zweiter Stelle. 
Es ist sicherlich bedauerlich, daß in Sachsen so viel Unzuchtverbrechen 
begangen werden, doch läßt sich einiges zur Entschuldigung anführen. Die 
meisten wegen dieses Verbrechens Verurteilten gehören dem Jünglings= und 
ersten Mannesalter an; wie wir gesehen haben, ist die Altersklasse 15 bis 
40 Jahre in Sachsen stark besetzt und es ist aus dieser Ursache allein schon 
erklärlich, daß Sachsens Anteil an dieser Verbrechensgruppe hoch ist. Unsere 
Kriminalstatistik, die eines Ausbaues sehr bedürftig ist, berücksichtigt nicht 
die Gebürtigkeit der Verurteilten; wir wissen deshalb auch nicht, wie groß 
die Zahl der verurteilten Reichsfremden in Sachsen ist; es läßt sich aber 
vermuten, daß die in Sachsen lebenden Österreicher, Italiener, Russen — 
Länder, in denen die sittlichen Zustände tief unter Deutschland stehen — 
einen erheblichen Teil der Verurteilten stellen. In Sachsen überwiegt ferner 
die städtische die ländliche Bevölkerung; in ländlichen Gegenden gilt manches 
Scherzwort, manche Unart — man denke nur an die Spinnstuben! — als 
erlaubt, die in den Städten zu einer Bestrafung des Thäters führen würde. 
Wesentlich aber ist die Auffassung der Frauen von ihrer Ehre. In einem 
sittlich verwahrlosten Lande, wo die Frauen leicht über ihre Ehre denken, die 
Familienbande locker sind, werden verhältnismäßig wenig Anzeigen wegen 
Unzuchtvergehen erfolgen; je strenger die Auffassung der Frauen ist, desto 
mehr wird die weibliche Würde gewahrt werden. Man vergleiche z. B. 
Sicilien mit Sachsen; dort giebt es keine Sittlichkeitsvergehen, d. h. nach 
dem Grundsatz: wo kein Kläger ist, giebt es keinen Beklagten; will man 
nun etwa behaupten, daß in Sicilien die Bevölkerung sittlicher und keuscher 
als in Sachsen lebe?
	        
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