252 Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen.
welche populär werden und weil sie dem Volkston gut nachgefühlt sind,
selbst in den Volksmund übergehen, sind darum nimmermehr Volkslieder
zu nennen“.
Aber, wird man einwerfen, ist denn das gewöhnliche Volk dichterisch
veranlagt? Goethe giebt die Antwort darauf: „Die Poesie ist nicht das
private Erbteil einiger weniger Gebildeter, sondern vielmehr eine allgemeine
Welt-- und Völkergabe“ — und an einer anderen Stelle: „Das poetische Talent
ist dem Bauer so gut gegeben als dem Ritter“. Wer sind denn nun die
Verfasser der Volkslieder? Man antwortet zumeist darauf: das Volk
selbst. Das ist richtig und unrichtig zugleich. Unrichtig insofern, als das
Volk als Gesamtheit natürlich nicht dichtet; denn das thut immer nur der
einzelne. Und doch ist die Antwort in gewissem Sinne richtig. Denn dieser
einzelne ist hier Vertreter des Volkes. Er spricht nur das aus, was die
anderen ebenso fühlen oder in gleicher Lage fühlen würden wie er; die Worte,
in die er seine Gefühle faßt, entsprechen der Ausdrucksweise des Volkes. Er
fühlt sich nicht als Dichter und erhebt nicht darauf Anspruch als Verfasser
zu gelten. In einer glücklichen Stunde ist das Lied entstanden, es findet
Anklang in dem Kreise, der es zuerst hört, und wird weiter gesungen. Wer
das Lied verfaßt hat, danach fragt man nicht, ebensowenig wie man sich
darum kümmert, wer ein treffendes Witzwort, wer einen gelungenen Spitz-
namen zuerst ausgesprochen hat. Unvermerkt vollziehen sich allerlei Ände-
rungen an dem Liede, je nach dem Geschmack, der Stimmung, dem Bedürf-
nisse der Singenden. Und so wird es Gemeingut, ohne daß der Dichter
irgend welches Verfasserrecht für sich beanspruchte. In diesem Sinne kann
man von einer Mitarbeit des Volkes an den Volksliedern sprechen. Dies
geschieht natürlich ebenso bei „volkstümlichen“ Liedern, welche bekannte
Dichter zu Verfassern haben. Zeigen diese wesentliche Veränderungen des
Wortlautes, so verdienen auch sie die Aufmerksamkeit der Sammler.
Das Volkslied soll also erstens im Volke entstanden und zweitens
gedächtnismäßig überliefert sein. Auch das ist ein wichtiges Kennzeichen
für das Volkslied, wenn es auch nicht, wie Arnold E. Berger') will, die
Haupteigentümlichkeit der Volksdichtung ist. Volkslieder werden von Mund
zu Mund überliefert, man singt aus dem Kopfe, nicht aus Büchern, und
es ist oft ganz erstaunlich, welche Masse von Liedern die Leute im Kopfe
haben. Ich habe zuweilen stundenlang bei einzelnen Liederkundigen gesessen
und nachstenographiert, ohne daß der Sangesquell versiegte. Bei einem
vogtländischen Bauernknechte schrieb ich einmal im Stalle auf dem Futter-
*) „Volksdichtung und Kunstdichtung“ von Arnold E. Berger in der Zeitschrift
Nord und Süd v. J. 1894 S. 88. Er unterscheidet an Stelle von Volksdichtung und
Kunstdichtung nur ungeschriebene Dichtung und geschriebene Dichtung oder mündlich
überlieserte Dichtung und Schriftdichtung.