Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 253
kasten 80 Liedchen nach einander auf, und als ich ihn einige Zeit später
wieder traf, da sang er wieder neue Lieder, die ich noch nicht von ihm gehört
hatte. Ahnlich erging es mir mit der Frau eines Landschullehrers im Vogt-
land, die, einmal ins Singen gekommen, mir über 90 größere und kleinere
Lieder vorsang, ohne auch nur einmal von ihrem Gedächtnis im Steche ge-
lassen zu werden. Diese mündliche lberlieferung schließt jedoch nicht aus,
daß auch Lieder aufgeschrieben werden. Nicht selten findet man in dem
Besitze von Mädchen und Burschen geschriebene Liederbücher, die man
als willkommene Quelle benutzen kann, aber — mit Vorsicht. Denn hier
liegt die Gefahr nahe, daß Lieder, die gar nicht vom Volke gesungen werden,
aus irgend welchem Buche abgeschrieben sind. Aber zur Feststellung des
Wortlautes von auch sonst gesungenen Liedern sind diese Liederbücher wohl
zu gebrauchen.
Denn gesungen werden muß ein Volkslied, — das ist die dritte
Forderung, die wir aufstellen mußten. Das liegt ja schon in dem Begriff
Lied. Ein Lied zum Lesen ist ein Unding, das erst unser papierenes Zeit-
alter hervorgebracht hat. Die Melodie ist, wie Herder sagt, die Seele des
Liedes. Und wer kennt und liebt nicht jene alten, tief ergreifenden Weisen,
die bei aller Einfachheit und Anspruchslosigkeit doch so tief zu Herzen gehen,
wer lauscht nicht mit inniger Herzensfreude an schönen Sommerabenden
auf dem Lande dem Gesange der Burschen und Mädchen, mögen es schwer-
mütige Weisen von Scheiden und Meiden oder muntere Töne lustiger Neck-
lieder sein. Die hohe Bedeutung der Volksweisen in musikalischer Beziehung
ist längst von den Kennern gewürdigt worden. Wort und Weise bilden
eine untrennbare Einheit. Darum kann man auch die Leute nur schwer
zum Vorsagen des Wortlautes bringen. Versuchen sie es, so reißt gewöhnlich
der Faden schnell ab. Läßt man sie aber singen, so folgt Vers auf Vers,
mit den vertrauten Tönen kommen die Worte unwillkürlich auf die Lippen,
eben weil beide zusammengehören. Daher ist es für das Sammeln von
Wichtigkeit, wenn man sich auf die Kurzschrift versteht; dann folgt der Stift
mit Leichtigkeit selbst dem flottesten Gesange. Auch die Aufzzeichnung der
Volksweisen ist aus den angegebenen Gründen sehr wünschenswert.
Wir haben von der Entstehung, der Überlieferung, den Weisen des Volks-
liedes gesprochen, aber auch der Text muß gewisse Eigenschaften haben,
an denen. man das Volkslied von anderen Dichtungen unterscheiden kann.
Er muß in Inhalt und Form der Anschauungs= und Ausdrucksweise
des Volkes entsprechen. Einfach, schlicht, treuherzig, wie das Volk selbst, ist
auch seine Dichtung. Daher ist sie auch wahr und gesund. Wo wir hohem
Flug der Gedanken, geistreichem Witz, feinsinnigen Wortspielen, blendenden
Bildern, kühnen Wortbildungen, kunstvollen Reimen begegnen, da haben wir
es nicht mit Volksliedern zu thum. Die echten Volksdichtungen haben, wie