Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 257
Aber auch das junge Volk singt nicht bei jeder Gelegenheit, sondern
meist nur in fröhlicher Gesellschaft. An schönen Sommerabenden, zum
Sommerhaufen oder Summerhäufele, wie es im Vogtland heißt, wo die
Mädchen „eingehäkelt“ d. h. Arm in Arm straßenbreit durch das Dorf ziehen,
die Burschen hinterdrein ebenso in Reih und Glied, da erschallen die
schönen alten Lieder meist zweistimmig durch die kühle Abendluft, oft bis
tief in die Nacht hinein. Denn wenn die Singenden einmal in Stimmung
sind, dann wird es ihnen schwer, wieder aufzuhören. Ebenso wird auf dem
Wege zum Tanze und auf dem Heimwege vom Tanze viel gesungen, wenn
die Burschen und Mädchen einen längeren Weg gemeinsam mit einander
zurückzulegen haben; auch bei dem Tanze selbst, namentlich in den Zwischen-
pausen zwischen den einzelnen Tänzen — wofern nicht die Polizei diese
schöne alte Sitte durch ihren Machtspruch stört. Im Winter bieten die
Rockenstuben oder Spinnstuben den jungen Leuten Gelegenheit, sich zu
treffen und gemeinsam zu singen. Doch auch dieser alte Volksbrauch wird
von der Polizei hart verfolgt, — sehr zum Schaden des Volksgesangs.
Allerdings mögen viele Ungehörigkeiten dabei vorgekommen sein, aber man
hätte lieber diese Auswüchse beschneiden, als die ganze Einrichtung aufheben
sollen. Ubrigens bestehen sie trotz des Verbotes noch an vielen Orten fort.
Auch im Wirtshause wird gern gesungen, ebenso bei gemeinsamer Arbeit,
sogar in staubigen Fabriksälen, kurz überall, wo fröhlich gestimmte Herzen
sich zusammen finden.
Im allgemeinen übertrifft nach meinen Erfahrungen das weibliche
Geschlecht das männliche an Sangeslust und Liederkenntnis. Dies bestätigt
auch Dr. A. Müller für das Erzgebirge. Wenn dieser den Grund darin
sucht, daß die jungen Burschen durch die Gesangvereine dem Volkslied
entfremdet würden, während dies bei den Mädchen nicht der Fall sei, so
kann ich ihm darin nicht beistimmen. Der Hauptgrund ist doch wohl darin
zu finden, daß das weibliche Geschlecht überhaupt mehr der Geselligkeit, dem
Anschluß an andre zuneigt, wie man ja schon an den kleinen Mädchen auf
der Straße beobachten kann, die viel lieber gesellige Spiele treiben als die
Jungen.
Darin allerdings muß man Dr. Müller Recht geben, daß die Gesang-
vereine auf dem Lande und in kleinen Städten dem Volksgesange schädlich
sind. Denn wenn überhaupt schon das Volk von seinen Liedern gering
denkt — es kann nicht begreifen, wie die Stadtherren sich um so gewöhnliches
Zeug kümmern können, — so blickt der gebildete Gesangvereinler mit besonderer
Verachtung auf die Volkslieder herab, die ja ohne Noten ein= oder höchstens
zweistimmig gesungen werden, während doch nach seiner Meinung ein richtiger
Gesang vierstimmig sein muß. Natürlich gilt dies nur von solchen Gegenden,
in denen das Volkslied noch lebendig ist. Wo dies nicht der Fall ist, kann
Wuttke, sächsische Volkskunde. 2. Aufl. 17