Full text: Sächsische Volkskunde.

Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 265 
ihrer Stimmung angemessen war. Das Ganze macht, abgesehen von ein- 
zelnen Stellen und namentlich dem 5. Briefe, den Eindruck der Volks- 
dichtung. Man kann auch einzelne Lieder nennen, die mehr oder minder 
benutzt sind. 
In ähnlicher Weise sind gewiß gar manche Volkslieder entstanden, indem 
die Singenden einzelne Verse und Wendungen bekannter älterer Lieder benutzten, 
um daran die Gedanken und Empfindungen, die sie gerade bewegten, anzu- 
knüpfen. Es läßt sich nicht verkennen, daß durch diese dichterischen Briefe 
des einfachen Mädchens ein gewisser leidenschaftlicher Schwung geht, der, so 
verschiedener Herkunft auch die einzelnen Teile sein mögen, doch dem Ganzen 
einen einheitlichen Charakter giebt. 
Während die größeren Volkslieder fast sämtlich in der Schriftsprache 
abgefaßt sind, finden wir die Volksmundart in den Vierzeilern oder 
Schnaderhüpfeln, wie sie in Süddeutschland heißen. Früher glaubte man 
vielfach, diese Gattung der Volksdichtung sei eine Eigentümlichkeit der Alpen- 
länder, und so erregte es ziemliches Aufsehen, als ich im Jahre 1876 meine 
vogtländischen Rundas herausgab mit 1400 solcher Liedchen, damals die 
umfangreichste Sammlung dieser Art. Seit dieser Zeit hat man allenthalben 
fleißig gesammelt und gefunden, daß fast in allen Gegenden Deutschlands 
solche Vierzeiler noch im Volksmunde leben, daß ebenso wie bei den größeren 
Volksliedern ein gewisser Stamm als Gemeingut von ganz Deutschland an- 
zusehen ist. Doch machen sich hier örtliche Verschiedenheiten mehr geltend als 
bei den größeren Volksliedern, schon wegen des Gebrauchs der Mundart. 
Dazu kommt noch ein anderer Umstand, der diese Liedchen für uns so an- 
ziehend macht. Neben den altüberlieferten Vierzeilern, die den Stamm bilden, 
treffen wir vielfach neue, frisch geschaffene, die sozusagen vor unseren Augen 
erst entstehen. Andere werden nur umgeändert je nach dem Bedürfiisse des 
Augenblicks, sie werden neuen Verhältnissen angepaßt, an einen bekannten 
Anfang fügt sich ein neuer Schluß. Hier ist die Volksdichtung noch im 
Flusse. Daher kommt es auch, daß, wie John Meier') vor kurzem nach- 
gewiesen hat, so viele Schnaderhüpfel, die von gebildeten Dichtern verfaßt 
sind, Eingang bei dem Volke gefunden haben und daß diese vom Volke selb- 
ständig weitergebildet werden. Im Vogtland singt man das Runda: 
Es is nix su traurig 
Und nix su betrübbt, 
Wie wenn sich & Krautshät (— Krauthaupt) 
In 4 Russen verlibbt. 
  
*) „Volkstümliche und kunstmäßige Elemente in der Schnaderhüpfelpoesie.“ Auf- 
satz der Münchener Allgem. Zeitung, Wissenschaftl. Beilage Nr. 226 v. 6. Okt. 1898.
	        
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