Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 269
Die volkstümlichen Kinderlieder stammen zum Teil aus uralter Zeit.
Daher sind sie für die Kulturgeschichte von hohem Werte. Sie sind eine
Quelle für die Kenntnis des Götterglaubens unserer heidnischen Vorfahren,
uralte Gebräuche spiegeln sich darin noch ab, wie in den Wundsegen, den
Blumenorakeln, den Ringelreihen, in denen wir Reste altheidnischer Tänze zu
Ehren der Götter zu erkennen haben. Aber auch Einrichtungen der neuesten
Zeit kommen darin vor: singt doch die Leipziger Jugend schon von dem viel
gerühmten aufgeschütteten Berge des Leipziger Rosenthals, dem sogenannten
Scherbelberg:
Auf dem Scherbelberge
Singt ne schöne Lerche,
Wenn mer oben stehn,
Könn' mer Möckern sehn. (Dähnhardt, Volkstüml. Nr. 138.)
Nach dem Inhalt unterscheiden wir Wiegen= und Schaukelliedchen für
die Kleinen, Kindergeschichten, Naturlieder, Zuchtreime, Sprachscherze, Kinder-
predigten, Rätsel und Abzählreime in unendlicher Menge. Alle großen
Ereignisse in dem Kleinleben der Kinder finden darin ihren Ausdruck, vor
allen Dingen die Schule, aber auch Feste, wie Weihnachten mit dem Knecht
Ruprecht, die Fastnacht, die Aschermittwoch mit dem Ascheabkehren, das Tod-
austreiben im Frühling, der Andreasabend, ferner das Austreiben des Viehs,
das Einsammeln der Heidelbeeren u. a. Für letzteres führe ich ein Liedchen
an, das in Alfred Meiche's Sagenbuch der Sächsischen Schweiz (S. 108)
abgedruckt ist, aber in der großen Sammlung F. M. Böhmes sich nicht findet:
Holeren, holêren
Itz komm' mir aus den Beeren.
Wir hab'n den Top bis über'n Rand,
Das schmeckt wie lauter Zuckerkand.
Herzerquickend ist die Fröhlichkeit und Jugendlust, die überall hindurch
klingt. Neckverschen giebt es in Unzahl. Ich will nur eines anführen aus
Dähnhardt's Sammlung (S. 26), das gleichfalls bei F. M. Böhme nicht
steht, über den Namen Ernst:
Ernst, Ernst,
Morgen werd gefernßt (gefirnißt),
Ülbermorgen werd lackiert,
Und der Ernst werd dran geschmiert.
Und dazu noch eine mir gleichfalls neue Rätselfrage, auch aus Leipzig
(Dähnhardt S. 31):
Kielemich und Keilemich
Die gingen auf en Böm,
Kielemich siel ’runter,
Wer blieb denn da noch 6'm?