278 Karl Franke: Die obersächsische Hauptmundart.
Trotz der Neigung des Obersächsischen, lange Selbstlaute bei sehr starker
Betonung überlang zu sprechen, geht es doch in der Erhaltung mittel-
hochdeutsch langer Selbstlaute oder der Verlängerung mittelhochdeutsch
kurzer nicht wesentlich über das Schriftdeutsche hinaus, wenigstens, wie man
es in Mitteldeutschland zu sprechen pflegt, wo in Wörtern wie Rad, Glas,
Jagd, Turm der Selbstlaut lang gesprochen wird. Ein gleiches geschieht im
Obersächsischen, aber auch in andern mitteldeutschen Mundarten, gegen
die neuhochdeutsche Schreibung durchgängig in Krüppel, Brett, Egge" in der
Silbe „all in „überalll, dem Umstandswort aan“ und in Spatz.
WViel größer ist im Vogtländischen und Erzgebirgischen die Anzahl
der Wörter mit verlängertem Stammselbstlaut.
Der zweigipflige Tonwechsel ist im Obersächsischen gelegentlich die Ver-
anlassung zur Entstehung der neuen Doppelselbstlaute (Diphthonge)
#. 6 ãa, õu., ũo.
Wird nämlich infolge sehr starker Betonung ein die Silbe und meist
auch das Wort schließender langer Selbstlaut übermäßig gedehnt, so reicht
ein einmaliger Ausatmungsstrom nicht aus, um die Windungen des zwei-
gipfligen Tonwechsels zu Ende zu bringen; deshalb folgt ein zweiter Aus-
atmungsstrom, durch den ein dem gedehnten Selbstlaut ähnlicher unterkurzer
Selbstlaut entsteht. Dieser unterscheidet sich etwas von dem vorausgehenden
gedehnten nicht bloß in der Tonhöhe, sondern auch in der Klangfarbe, so
will = wie?, — nösj — nein, — tas is 1e Snsel (das ist ja Schneel) —
2 wi sésine! (Ei wie schönl) (Wie diese Beispiele zeigen, steht dieses õẽj
für jedes auslautende sehr stark betonte obersächsische 5 ohne Rücksicht auf
seine Abstammung also für schriftdeutsch e, ei und 5)] — rüäs = jal —
sööu = so? — nüüld = nun?
Bei diesen Doppelselbstlauten ist der erste Bestandteil stets überlang
und geht nie allmählich in den zweiten über, sondern dieser stürzt ihm nach,
so daß er fast eine neue Silbe bildet.
Dies hat uns zur Bildung von Doppelselbstlauten geführt.
Die Doppelselbstlaute der neuhochdeutschen Schriftsprache ei (ai), au und
eu (oder äu) sind nämlich hinsichtlich ihrer Entstehung zweifacher Art:
die einen haben ein sehr hohes Alter, da sie in urgermanische Zeit zurück-
gehen, das ist in einen Zeitraum, in dem sich die germanische Sprache noch nicht
in eine deutsche, gotische und nordische gespalten hatte; die anderen haben
sich erst um die Wende des mittelhochdeutschen und des neuhochdeutschen Zeit-
abschnittes (1400—1500) aus den alten Längen 1, ũ und iu (lFj entwickelt.
Von diesen ist mittelhochdeutsches 1 im Obersächsischen stets zu ei, iu zu oy“
oder ei und ü zu au geworden mit Ausnahme von ein für die Nennform
(Infinitiv) sein, von sit = seid und von hide = mittelhochdeutschem hinte
für „diese Nacht", sowie von üf für auf, welche Formen aber nicht als Ver-