318 Eugen Mogk: Aberglaube und Volksmythen.
gegangen und hatte ferne Gegenden besucht, vergangene Zeiten oder Ver-
storbene gesehen, bald war aber auch die eigene Brust schwer beängstigt
worden: eine fremde Seele hatte sich auf sie gesetzt, der Alp, die Mare, die
Trut hatte sie gedrückt. In diesem Zustande voller Freiheit nahm die
Seele nicht selten Tiergestalt an, sie zeigte sich bald als Maus, bald als
Schlange, bald als Wiesel, bald als Kröte. Wir haben eine Menge deutscher
Sagen, die früheste geht ins 6. Jahrhundert zurück, die uns von solcher
Seelenwanderung während des Schlafes berichten. Aus altsächsischen Landen
erzählt der Leipziger Magister Prätorius eine solche Geschichte, die sich im
Anfange des 17. Jahrhunderts zugetragen haben soll und die Zeugnis giebt,
wie lebhaft man damals noch an die Wanderung der Seele während des
Schlafes dachte. Mägde, so heißt es dort, sind mit Obstschälen beschäftigt.
Da überfällt die eine Magd Müdigkeit und sie legt sich auf die nahe Bank.
Kaum ist sie eingeschlafen, da kriecht aus ihrem Munde ein rotes Mäuslein
heraus, das das andere Gesinde insgesamt gesehen. Dieses spaziert zum
Fenster hinaus. Da nimmt eine vorwitzige Magd die Schlafende und
wendet sie trotz der Warnungen der anderen um. Nach einiger Zeit kommt
das rote Mäuslein wieder und sucht und sucht nach dem Munde, aus dem
es entschlüpft, und da es sich nicht zurecht finden kann, geht es wieder zum
Fenster hinaus. Jene schlafende Magd aber ist von diesem Augenblicke an
mausetot gewesen und verblieben. Nun hat aber dieselbige Magd einen
Knecht auf demselben Hofe zum Liebsten gehabt, der ist damals und früher
schon öfter von der Trut gedrückt worden; von dieser Zeit an hat das
aufgehört. — Und solches hat Prätorius von der Schwester seiner Schwie-
germutter, die es mit eigenen Augen gesehen, öfter erzählen hören.
In diesem Zustande der Freiheit vermag aber auch die Seele mit den
Geistern der Abgeschiedenen zu verkehren und durch sie die Zukunft zu er-
fahren. Hieraus erklärt sich die Prophetie, die sich an die Träume knünpft
und die besonders in den Zwölf Nächten eine Rolle spielt, d. i. in der Zeit,
wo die Geister ihr Wesen treiben.
Diese feste Uberzeugung von der Sonderexistenz der Seele und ihrem
Fortleben nach dem Tode ist die Wurzel eines großen Teiles unseres Volks-
glaubens. Mannigfach waren bei unseren Vorfahren die Vorstellungen von
der Thätigkeit der Geister: bald führte die Seele ein Leben fort, das dem
der Zurückbleibenden entsprach, bald lebte sie fort in der Nähe ihrer irdischen
Wohnstätte und erschien hier zuweilen als Gespenst in Menschen= oder Tier-
gestalt, bald befand sie sich in dem Seelenheere, das durch die Lüfte sauste
und besonders in den Zwölf Nächten sein Wesen trieb, bald weilte sie in
Bergen, Flüssen, Teichen.
Sehen wir nun, wie abergläubische Sitte und Handlung noch heute
hier und da in unserem Volke diese alten Vorstellungen erhalten haben.