Full text: Sächsische Volkskunde.

342 Johannes Walther: Sprache und Volksdichtung der Wenden. 
gebildet, teils ersetzt. Von den Modis hat das Sorbische neben dem Indi- 
kativus nur den Imperativus, welcher eigentlich ein Optativus praesentis ist; 
Konditional und Subjunktiv werden durch Umschreibung gebildet. Von den 
Numeris besitzt das Verbum, wie das Nomen, alle drei: Singularis, Dualis, 
Pluralis. Als genus verbi hat das Sorbische nur das Aktivum; Medium 
und Passivum werden entweder reflexiv gebildet, d. h. durch die Aktivformen 
mit dem Accusativus des Reflexionspronomens so, oder sie werden durch 
Umschreibung mit dem Hilfsverb gebildet. Ein Blick aufs Französische zeigt 
ähnliche Erscheinungen. . 
Von Nominalformen hat das sorbische Verbum bis heute erhalten: das 
Substantivum verbale, den Infinitiv und folgende Participia: das Partici- 
pium praes. act., das Transgressivum oder Gerundium, zwei völlig verschiedene 
part. praet. activi und das part. praet. passivi. Von wesentlichem Einflusse 
auf den richtigen Sprachgebrauch ist die im Sorbischen jedem einzelnen Verb 
innewohnende Bezeichnung der Zeitdauer oder der Art einer Handlung. 
Diese kann vollendet und unvollendet sein, und danach zerfallen alle Verben 
in erster Linie in Verba perfectiva und Verba imperfectiva. Eine Abart 
der Verba perfectiva sind die Verba momentanea, welche die Handlung auf 
einen Moment beschränken. Bei den Verba imperfectiva unterscheidet man je 
nach der Beschaffenheit der unvollendeten Handlung in der Hauptsache drei 
Unterarten: 1. Verba durativa, welche eine einfache dauernde Handlung 
bezeichnen, 2. Verba iterativa, welche eine sich wiederholende oder ent- 
wickelnde Handlung ausdrücken und 3. Verba frequentativa, welche Thätig- 
keiten bezeichnen, die sich seitens mehrerer Subjekte auf mehrere Objekte beziehen. 
Hiermit habe ich in groben Umrissen auf das Gebiet und einige 
Charakteristika der lautlich und formell außerordentlich entwickelten und 
vielgestaltigen sorbischen Sprache hingewiesen, die man seit Luthers Zeiten 
so oft totgesagt, oder im Absterben begriffen gedacht hat, und der diejenigen, 
welche sie nicht kennen, Wortarmut und die Unmöglichkeit höheren sprach- 
lichen Ansdrucks nachsagen. Noch lebt diese Sprache in voller Lebenskraft 
im wendischen Volke und ist im stande jedem Gedanken das richtige Gewand 
zu verleihen. Zwar klagt schon Dante (Purgatorio, Cant. XXVI): „Sinkt 
nicht der Neueren Sprache ganz darnieder!“, ein Stoßseufzer, zu dem 
man so oft auf dem Gebiete der deutschen Litteratur und manchmal auch in 
formaler Hinsicht auf wendischem Sprachgebiet berechtigt ist. Aber gerade 
das Volk im eigentlichen Sinne ist es, welches den Reichtum seiner Sprache 
und ihre Schönheit, ohne diesen Reichtum eigentlich zu kennen, treu bewahrt. 
Auch hier ist des Apostels Paulus Rat: „Haltet euch herunter zu den 
Niedrigen“ für den Forscher und Sammler von größtem Wert und Gewinn. 
Und wenn das Wort des großen Dichters: „Es ist der Geist, der sich den 
Körper schafft", auf die Sprache und ihren Genius angewendet wird, so
	        
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