344 Johannes Walther: Sprache und Volksdichtung der Wenden.
niemand, das ist ein Unding, aber erklingen nur die ersten Töne, dann
solgen Verse, Strophen, Lieder, eines nach dem andern. Ein kleiner Kunst-
griff des Sammlers öffnet da noch leichter als sonst den Mund: kommt
man mit Geige oder Zither, wie ich es gethan, um die oder jene Weise zu
erfahren und nachzuspielen, gilt man so auch für einen Sänger und Spiel-
mann, so weicht die zurückhaltende Scheu; und die unsern Sorben alt und
jung eigene leidenschaftliche Liebe zur Musik wie zum Singen öffnet Mund
und Herz und den Schatz des Gedächtnisses. Welch ein Gedächtnis! Man
glaubt sich in die Zeit der Homeriden versetzt, wenn es vorkommt, das junge
Mädchen oder ältere Frauen stundenlang mühelos mit sichtlicher Freude am
Singen und Sagen ein Volkslied nach dem andern, eine Volksweise nach der
andern erklingen lassen. Und man sagt sich, daß das Schwarz-auf-Weiß-
besitzen auch seine Schattenseiten hat und daß das unvermeidliche übertriebene
Zeitungslesen die Kraft des Gedächtnisses schwächt und an seine Stelle eine
gewisse Fähigkeit bald zu vergessen gesetzt hat. Mehr als das männliche
Geschlecht bewahren, singen, verbreiten, variieren die Mädchen und Frauen
auch bei den Wenden das Volkslied. Man müßte mit berechtigter Dankbarkeit
eigentlich nicht von des Knaben, sondern von des Mädchens Wunderhorn sprechen.
Die Zeit der Entstehung unserer wendischen Volkslieder ist auf Jahr
und Jahrzehnt nicht zu bestimmen, um so weniger, als man erst ums
Jahr 1840 begonnen hat, wendische Volkslieder durch Schrift und Druck zu
firieren. Daß viele dieser Lieder sehr alt sind, daß andre unsrem Jahr-
hundert angehören, läßt sich nachweisen. Das hohe Alter vieler dieser Weisen
geht aus ihren Melodieen, ihrem Inhalt und aus einzelnen Worten hervor,
die der heutigen Volkssprache längst nicht mehr angehören, die man wohl
auch nicht mehr versteht, die man aber wie einen rituellen Bestand unan-
getastet stehen läßt und singt. Hierzu einige Beispiele: Fast glaubt man
einen Anklang an das uralte Lied der Edda von den Riesenmädchen Fenja
und Menja zu vernehmen, die dem König Frote Glück und Heil auf dem
Schicksalsmühlsteine mahlen müssen: „Und sie sangen und schwangen den
schweren Stein, bis Frotes meiste Mägde entschlummert, und so begann Fenja
beim Mahlen den Sang“", — wenn eins dieser Volkslieder beginnt: „Wopaki
kamjenje na druhi bok“ — „Kehrt um auf die andere Seite den Stein“,
und dann ganz unvermittelt das Lied von dem Mägdlein und ihrem Liebsten
singt, die sich suchen über Berg und Thal. Ein andres weist mit der Er-
zählung von Türken und Tataren in die Zeit der Türkenkriege, an denen
bekanntlich auch die Lausitzer teilnahmen. Ein sehr bekanntes Lied singt in
naivster Weise von einem Räuberhauptmann und Tyrannen Reisenberg,
welcher historisch nachweislich zu den Wegelagerern gehörte, die infolge der
Enthauptung des Kunz von Kauffungen am Ende des 15. Jahrhunderts die
Lausitz verwüsteten. Auch einzelne Worte lassen annähernde Zeitbestimmungen