Full text: Sächsische Volkskunde.

346 Johannes Walther: Sprache und Bolksdichtung der Wenden. 
nach dem Orte und den Gelegenheiten des Gesanges der Volkslieder. Auf 
den Tanzböden und bei der Arbeit in Haus, Hof und Stall, bei fröhlichen 
Festen, wie in Wald und Feld, hier namentlich beim Hüten des Viehs, haupt- 
sächlich aber hinter dem Spinnrade von ein, zwei, drei Sängerinnen, oder 
in der Spinnstube von einer ganzen Schar erklingen die Volkslieder. Jede 
einzelne Ortschaft hat ihre bestimmte Vorsängerin, die jedes Lied und jede 
Strophe beginnt, die sich dies Ehrenamt nicht leicht streitig machen läßt und 
seiner auch bei feierlichernsten Gelegenheiten wartet, z. B. bei dem Singen 
der Passionslieder auf dem Dorfanger an den Sonntagabendeu der Fastenzeit, 
in der Osterwoche, oder auch am Vorabende vor dem Begräbnis eines Toten. 
Dieser Vorabend heißt sehr bezeichnend „pusty wjeor" der öde Abend, oder 
der wüste, leere Abend; an ihm versammeln sich die Dorfmädchen mit ihrer 
Vorsängerin im Trauerhause und singen am offenen Sarge des Abgeschiedenen 
bei brennenden Kerzen eine bestimmte Anzahl Lieder, eine Sitte, die tief 
ergreift und bei welcher man sich wundern muß, daß unsere Maler diesen 
Vorgang noch nicht zu einem Bilde benutzt haben. 
Bezüglich des Inhalts der wendischen Volkslieder ist leicht nachzuweisen, 
daß die Harfe wendischen Volksgesanges ebenso viele, ebenso kräftige und 
ebenso zarte Saiten aufzuweisen hat, wie die deutsche Volksleyer; klagend 
und jauchzend, übermütig und sehnend, derb und kräftig bis zur Salon- 
unmöglichkeit und wieder sinnig und herzlich erklingen diese Töne und Weisen. 
Lieder von Liebeslust und Liebesleid, vom Scheiden und Wiedersehen, vom 
verlorenen Rautenkränzlein und standhafter Treue, vom verkleideten Liebsten, 
der als Bettler kommt und vom vergifteten Knaben, den der böse Feind 
vergeben hat, wechseln miteinander und sind inhaltlich dem Kenner des 
Volksliedes unseres deutschen Volkes und anderer Völker nicht fremd. Ja, 
manche der sorbischen Volkslieder dürften sich als Übertragungen aus dem 
Deutschen offenbaren, so z. B. das im westlichen Teile des wendischen Ge- 
bietes vielgesungene Lied von dem Mädchen, das zwei Knaben liebt und 
diese Untreue mit dem Tode durchs blitzende Schwert büßen muß: „Und wenn 
zwei Knaben ein Mädchen lieb hab'n — das thut ja nimmer kein gut — 
wir beide wir haben's erfahren, — ja, ja erfahren, — was böse Liebe thut.“ 
Auch die Melodie verrät, daß das Lied nicht unter wendischen Linden ge- 
wachsen ist. Der Weg, den solche deutsche Volkslieder ins Sorbische nehmen, 
ist deutlich sichtbar: Der Bursche, der im deutschen Osten oder Westen seine 
Soldatenzeit verbringt, oder als Knecht dient, das Mädchen, welches als 
Dienstmädchen oder als Amme in deutschen Gegenden weilt, bringt ein oder 
das andere Lied bei ihrer Rückkehr mit, singt es einigemal, andere hören es 
und die mehr oder minder genaue Übertragung liegt nicht fern. Ebenso wie 
einige Lieder an deutsche Weisen anklingen, so andere an slawische Volkslieder: 
Im litanischen: „bardzo raniuchno wchodtilo sloneéko“ geht das Mädchen
	        
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