M. Rentsch: Volkssitte, Brauch und Aberglaube bei den Wenden. 353
Es ist bekannt, daß das Wendenvolk, der letzte Rest jener großen slawischen
Volksstämme, die in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends nach Christus
den größten Teil des mittleren und nördlichen Deutschlands bewohnten, durch
kein staatliches Band zusammengeschlossen ist, vielmehr hat die äußere Einheit
der Wenden unter der Ungunst der politischen und kirchlichen Entwickelung
zu leiden gehabt. Aber ein Band unmschließt sie alle, mögen sie wohnen in
den schönen Thälern des lausitzer Mittelgebirges, am Cornybéh, am Lubin
und am Pichow, in der gesegneten Klostergegend zwischen Bautzen und Kamenz
bis hinunter in das norddeutsche Tiefland, in den Kiefernwäldern bei Niesky
und Muskau und im poesievollen Spreewald, in den fruchtbaren Ebenen bei
Lübbenau, Cottbus und Peitz, das ist die gemeinsame Abstammung und
Sprache und neben ihr Trachten, Sitten und Bräuche im Volksleben, sowie
eigenartige Vorstellungen im Glauben und Aberglauben. Wohl sind mancher-
lei Verschiedenheiten zu bemerken, bedingt durch die örtlichen Verhältnisse,
durch die Art der Beschäftigung, durch Wohlstand und Armut, besonders
auch durch die konfessionelle Unterscheidung, durch die Größe und Weite des
von den Wenden bewohnten Gebiets, aber im ganzen ist die Grundlage in
den Anschauungen, Meinungen und Sitten des Volkes, in der Art und Weise
des Sichgebens und Benehmens überall fast dieselbe, wobei freilich zu berück-
sichtigen ist, daß die Wenden in der Hauptsache Ackerbau, Viehzucht, Wald-
und Teichwirtschaft betreiben, daß sie also fast ausschließlich Landbewohner,
Dörfler sind. Von Gewerben bevorzugen sie das Maurer-, Zimmerer= und
Tischlerhandwerk. In manchen Gegenden webt die Hausfrau von selbsterbautem
und gesponnenem Flachs die zum Haushalt nötige Leinweinwand.
Dafß sich Sitten, Gebräuche und abergläubische Vorstellungen der Wenden
mit denen der sie umgebenden Bewohner deutscher Zunge vielfach berühren,
ist erklärlich dadurch, daß die Deutschen dieser Gegenden zumeist slawisch-
wendischen Ursprungs sind. Andererseits aber ist eine Gemeinsamkeit wendischer
Gebräuche mit denen anderer slawischer Völker vielfach nachweisbar; ich er-
innere nur an die weiße Trauerfarbe, an einzelne Hochzeitsgebräuche, an die
Totenklagen, an eine Menge mythologischer Vorstellungen u. s. w.
Betrachten wir zunächst die Sitten und Gebräuche der Wenden.
Der Wende ist durchaus religiös gesinnt. Man darf wohl bestimmt
sagen, daß ein Wende, der seiner kirchlichen Gesinnung verlustig gegangen
ist, auch die Eigentümlichkeiten der wendischen Nationalität mehr oder weniger
abgestreift hat.
Schon ein Blick auf Sitte und Brauch im Alltagsleben erweist die
obige Behauptung.
Der Wende bezieht sich in seinen Umgangsformen auf Gott; von ihm
kommt alles, zu ihm weist alles hin.
Wuttke, sächsische Volkskunde. 2. Aufl. 23