M. Reutsch: Volkssitte, Brauch und Aberglaube bei den Wenden. 359
die Zukunft weiter. Darum gehen auch die Forscher mit Vorliebe in die
Spinnstube, wo sie Volkslieder hören und das Volksleben am Quell be-
lauschen können.
Neben diesen eigentümlichen Sitten im Alltagsleben der Wenden giebt es
eine Menge von Gebräuchen, die an besonderen Tagen und Festen geübt werden.
An erster Stelle nenne ich Walpurgis, walpora, den Tag und die
Nacht vor dem 1. Mai. Wer jemals am Abend des letzten April in der
Lausitz gewesen ist, dem werden die zahlreichen Feuer, die auf den Bergen
wie in den Thälern und in der Ebene auflodern, in der Erinnerung sein.
Das ist das Hexenbrennen (kuzlarnice palic). Die Burschen und größeren
Kinder ziehen mit alten Besen, die man seit Wochen dazu sammelte, hinaus,
zünden sie an und tanzen mit den brennenden Besen auf den Feldern
herum. Die Hexen und bösen Geister sollen durch das Feuer gebannt
werden. Auch zieht man an Walpurgis mit Sensen auf Wiesen und
Feldern herum, schlägt mit Steinen daran und vertreibt die Hexen durch
den Lärm. Die Eingänge zum Hofe werden mit Reisern besteckt, über die
Stallthüre werden 3 Kreuze gemacht, um die Hexen abzuhalten. Die Kühe
müssen vor Sonnenuntergang an diesem Tage gefüttert und abgemolken sein.
Die Stallthür wird dann geschlossen.
Ein Hauptfest ist im Frühjahre das Aufstellen des Maienbaumes
(meja). Die jungen Burschen suchen im Walde den schlanksten, höchsten
Baum aus, schälen ihn ab und stellen ihn auf dem Dorfanger auf, den
grünen Wipfel mit bunten Tüchern und Bändern geschmückt, welche die
jungen Mädchen schenken. So bleibt die Meja bis zum Himmelfahrtstage
oder an manchen Orten bis zum Pfingsttage stehen, hoch hinauf über die
Dächer ragend. Beim Abgraben des Bodens um den Baum wird er umtanzt
und der Bursche, welcher den grünen Wipfel von dem fallenden Baume erhascht
und abbricht, ist der Held des Tages. Unter Musik und Juchzen wird er,
mit dem hocherhobenen Wipfel in der Hand auf den Schultern eines Burschen
sitzend, in die Schenke getragen, wo der Tanz seine Fortsetzung findet.
In der Fastenzeit sammelt sich eine Schar junger Mädchen (zumeist
die Genossinnen aus der Spinnstube, womöglich nur die „ehrbaren"“, d. h.
nicht gefallenen) und singt unter Leitung einer Vorsängerin allsonntäglich
nachmittags in den Höfen des Dorfes oder auf dem Dorfanger geistliche
Lieder. In der Osternacht versammeln sie sich auf dem Pfarrhofe, dort
singen sie, eine jede auf ihrem mitgebrachten Melkschemel sitzend, bis um
Mitternacht die Glocken das Auferstehungsfest einläuten. An manchen Orten,
z. B. in Schleife, wird die Glocke in dieser Nacht von den Burschen immer
an einer Seite zum Anschlagen gebracht. Man nennt dies beaiern,
wendisch bejrowac das heißt: „auf bayrische Art läuten"). Nach Mitter-
nacht zieht die Mädchenschar vor jedes Gehöft und singt dort ein Lied,