406 O. Gruner: Haus und Hof im sächsischen Dorfe.
zu lassen, so kommt man logischerweise auch zu Zweifeln an der Richtigkeit
der Grundlagen, auf denen unsere Ästhetik bisher fußte. Sieht man sich
aber nach neuen Grundlagen, wieder besonders für die Architektur um, so
wird der Blick alsbald auf eine bewußte, stärkere Betonung des nationalen
Elements gelenkt und die Wege, die uns noch am sichersten zu diesem führen,
leiten notwendig hinaus aufs Land, wo die Akademien mit ihren griechischen
und römischen Mustern noch nicht so viel Verwirrung angerichtet haben, wie
in den Städten. Sowohl Aufgabe und Zweck des menschlichen Daseins, als
auch die Vorbedingungen zu deren Erfüllung liegen dort meist noch einfach
und klar zu Tage, so daß auch für die Beschaffung des Unterkommens von
Mensch und Tier, für die Baulichkeiten, die der Betrieb erfordert, in leicht
zu übersehender, harmonischer Weise, organisch aus den Bedürfnissen heraus-
entwickelt, gesorgt werden kann. Diese Klarheit und Harmonie von Zweck
und Mittel, die Entwickelung aus dem nackten Bedürfnisse zum reich ge-
gliederten Organismus aber ist der Weg zur wirklichen Schönheit, zur boden-
ständigen Kunst; aus dem hölzernen Cubiculum, dem Abbild der ein-
fachsten menschlichen Behausung, ist der griechische Tempel allmählich heraus-
gewachsen. Nun muß ich freilich schon hier vorausschicken, daß unserm
Dorfhause vom alten Schlage zum Kunstwerk noch recht viel fehlt; was
einzelne Kunstformen wie Schnitzereien, zierlichen Holzverband, malerische
Vorbauten und dergleichen betrifft, kann es sich nicht entfernt mit seinen
berühmt gewordenen Verwandten in der Schweiz messen, selbst den Vergleich
mit den hervorragenderen Fachwexkbauten im Hennegau und Thüringen hält
es nicht aus. Vielfach treffen wir in Sachsen wirklich nur die nackte Nutz-
form an, auch konstruktiv nur in der dürftigsten Weise ausgeführt, so daß
Zweckdienlichkeit und eine gewisse Harmonie, sowohl in sich als im Zusammen-
hange mit der Landschaft die einzigen Elemente sind, die uns ästhetisch an-
sprechen, und den neueren Bauten auf dem Lande gehen auch diese natürlichen
Vorzüge und Reize vielfach in der bedauerlichsten Weise ab.
Es ist sehr zu beklagen, daß man nicht schon früher den Anfang mit
der Erforschung unserer ländlichen Bauweise gemacht hat, zu einer Zeit, als
noch mehr echtes, altes Material dazu vorlag, aber diese empfindliche Lücke
in unserer wissenschaftlichen Litteratur macht sich in den meisten Gegenden
Deutschlands bemerklich. Wenn auch das Landleben mit seinen charakte-
ristischen Gestalten, Sitten und Gewohnheiten in Idyllen, Dorfgeschichten
und Schauspielen manchen begeisterten Schilderer gefunden hat, wenn auch
nicht bloß Geistliche und Lehrer, die mitten darin und doch auf einer höheren
Warte stehen, sondern auch Schriftsteller von Beruf wie Immermann, Auer-
bach, Sohnrey u. a. es treu und drastisch nach der Natur porträtiert oder
mit dem Duft und Reiz dichterischer Anschauung verklärt haben, so ist neben
der klassischen Schilderung, die Justus Möser vom westfälischen Bauern-