Cornelius Gurlitt, Die Zukunft der Volkstrachten. 557
keiten haben, denn der Haushalt stellt beispielsweise an die ungarische Bäuerin
unendlich viel höhere künstlerische Anforderungen, als an unsere Frauen. Das
schwierigere Ziel wird schwerer erreicht, der Fortschritt über das Erreichte
hinaus ist nur wenigen möglich, er vollzieht sich langsam. Es kann eine
solche Volkskunst durch Jahrhunderte der Quell seelischer Befriedigung für
Schaffende und Gebrauchende — zumeist dieselben Personen — sein. Es be-
steht ein Unterschied darin, ob man die Leinwand, den Faden, die Farbe zum
Färben und das Muster erst selbst schaffen muß, oder ob man bloß zum
Händler zu gehen braucht und eine angefangene vorgestickte Arbeit zum Fertig-
machen kauft. Bietet dort die schwierige Arbeit dauernde Freude, so muß
hier das Mechanische des Schaffens bald dazu führen, daß die Arbeit lang-
weilig wird und daß der Regsame sie zu ändern, umzugestalten beginnt. Nicht
weil er oberflächlicher ist, nicht aus tadelswerten Gründen, auch nicht weil
er geistreicher und künstlerisch begabter ist, sondern weil er unter ganz anderen
Bedingungen schafft.
Eine Volkskunst kann nur in der Begrenztheit sich entwickeln. Wie sie
aufhört, auf Hausarbeit sich zu stützen, ist ihr der feste Halt genommen.
Wie zahlreich sind in neuerer Zeit die Bestrebungen gewesen, die auf
„Hebung der Volkskunst“ hinausgingen. Ich glaube nicht, daß irgend eine
dieser an sich löblichen Unternehmungen ihren eigentlichen Zweck erreichten.
Sehen wir in Sachsen die Kunst des Spitzenklöppelns. Käme es auf die
Zahl der sich an dieser beteiligenden fleißigen Hände an, so hätten wir hierin
eine rechte Volkskunst großen Stiles. Nicht in Fabriken, sondern im Bauern-
haus entsteht die Spitze. Und trotzdem hat sie in ihren Erzeugnissen alle
Merkmale dessen, was sie als Handelskunst kennzeichnet: Der Rohstoff wird
eingeführt, die Anfertiger verbrauchen die Erzeugnisse nicht selbst, sondern ver-
kaufen sie durch den Fernhandel. Es ist lediglich ein dezentralisierter Fabrik-
betrieb, durch den die Spitze entsteht. Wo auch kapitalkräftige Männer sich
einer notleidenden wirklichen Volkskunst annehmen, so geschieht dies nicht in
der Absicht, das Kleid, die Stube des Bauern in besserer Weise auszustatten,
sondern seine künstlerische Kraft für den Handelsmarkt zu verwerten. Damit
zwingt man die Volkskunst unter die Gesetze von Angebot und Nochfrage,
schafft man einen Stamm besonders geschickter Arbeiter — und diese werden
besonders geschickt dadurch, daß sie aufhören, alle im Haushalt bisher üblichen
Kunstfertigkeiten zu betreiben, Bauern im alten Sinn zu sein; man
schafft also aus dem Bauern einen Arbeiter. Es gelingt damit vielleicht in
ein verarmtes Haus Wohlstand zu bringen, man zerstört aber die Volkskunst,
selbst wenn man Dinge erzeugt, die den von dieser geschaffenen vollkommen
gleichen. Man kann sicher sein, daß nach einem Jahrzehnt dieses Gleichen
sein Ende erlangte! Es wird ein Zeichner angenommen, der neue Muster
macht, es werden bessere Rohstoffe verschrieben, es wird eben die Volkskunst