Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. 559
Manchmal freilich mag es einer guten Polizei gelungen sein, dem Bauern
eine Kleiderform zu nehmen, die er erstrebte. Aber solche Formen wechselten,
ja bei lebhaftem Modetreiben rasch, das Verbotene war bald nicht mehr das
Erstrebenswerte. Neue Erlasse mußten erfolgen, das Gesetz kam notwendiger-
weise stets um eine Spanne Zeit zu spät. Mit dem Wechsel der Mode wechselte
das kaufmännische Angebot. Denn selbst die größte Herrin der Moden, die
wohl je regierte, die Kaiserin Eugenie von Frankreich, hat nie ein Kleid
„kreiert", dessen Muster nicht ein Jahr vorher der Zeichner entwarf, dessen
Rohstoffe nicht die Spinnerei vorher herstellte, dessen Farben nicht der
Fabrikant wählte: zu allen Zeiten machten nicht die Träger, sondern die
Erzeuger der Mode. Volkstracht entsteht nur, wo beides eine Person oder
doch nahestehende sind.
Wie nun manche Leute eines Tages sich entschließen, weitere Moden
nicht mehr mitzumachen, sich mit der einmal erlangten Kleiderform zu be-
gnügen und wie sie von nun an das Fortschreiten anderer gern für Thorheit
erklären, weil ihnen selbst die Lust und Kraft zum Fortbilden der Form-
gedanken verloren ging, so haben es auch die Völker gethan, wenigstens jene,
die von den geschichtlichen Ereignissen außer Verkehr gesetzt, von den Ver-
hältnissen gehindert wurden sich geistig zu verjüngen, die eine Zeit des Alters,
der geistigen Schwäche durchzumachen hatten.
Es ist daher meines Ermessens ein unberechtigtes Beginnen, dem Bauern
zuzurufen; „Trage du dein altes Kleid, uns, den Städtern, zu liebe. Denn
du erscheinst uns in deiner im stillen belächelten Altertümlichkeit belustigend,
du machst uns mehr Spaß, wenn du dich absonderlich kleidest, als wenn
du uns nachahmst!“ Will man das Bauernkleid erhalten, so muß man sich
mit dem Gedanken befreunden, es selbst zu tragen. Freilich Hottenroth erzählt
uns in seinem trefflichen Buch „Deutsche Volkstrachten““), dem besten
dieser Art, das wir besitzen, daß die süddeutsche Schaube durch französische
Offiziere an den Hof Ludwig XIV. gebracht worden sei, dort als
Juste-au-corps Hof= und Soldatentracht geworden und somit zu dem Haupt-
stück der militärischen Tracht bis auf den heutigen Tag geworden sei, die
im Waffenrock wie im Interimsrock der Offiziere sich wiederspiegelt. Das
wäre also ein Vorgang der Aufnahme einer Bauerntracht durch die vor-
nehmeren Gesellschaftskreise. Eine solche verspricht nur dann Erfolg, wenn
sie von einem Mittelpunkt der Mode ausgeht, der einen vorherrschenden Ein-
fluß auf den Gesamtgeschmack hat. Noch in jüngster Zeit sahen wir in der
Tracht der Kinder, in der Hutform der Frauen starke Anlehnungen an die
*) Deutsche Volkstrachten — städtische und ländliche — vom XVI. Jahrhundert an
bis zum Anfang des XIX. Jahrhunderts. Volkstrachten aus Süd= und Südwestdeutsch-
land. Von Friedrich Hottenroth. Frankfurt a. M., Verlag von Heinrich Keller 1898,
(VII und 224 S., reich illustriert).