Full text: Sächsische Volkskunde.

560 Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. 
russischen Bauernkleider. Sie hatte ihren Ursprung in der Russen-Begeisterung, 
die Paris erfaßt hatte. Bei uns las man wohl, daß die Mode diese 
Hüte als „russisch“ bezeichnete, aber die deutschen Mädchen ahnten schwerlich, 
daß sie mit ihren breitköpfigen Stroh= und Filzhüten gegen den Dreibund 
zu demonstrieren halfen. Kein Mensch in Deutschland hat meines Wissens 
von diesem Vorgange Kenntnis genommen: Ein Beweis mehr dafür, wie 
wenig der Geschmack der Träger heute bestimmend auf die Mode wirkt. 
Wer aber wird hoffen, daß diese sich der altenburger oder der vogt- 
länder Tracht annehmen werdel 
Anders steht es mit der tiroler Tracht. Wir sehen viele Städter, die 
zugleich Alpenfreunde sind, sie anlegen, sobald sie den Staub Münchens von 
den Schuhen geschüttelt haben; wir sehen, daß die Jäger überall bei ihr An- 
leihen machen, daß der Loden, das Erzeugnis der Alpenländer, bei uns ein 
modischer Stoff wurde. Hier handelt es sich darum, daß der Städter das 
Leben des Alpler selbst aufnimmt, Berge besteigt, im Walde lebt, daß er in 
dem vom Bedürfnis bestimmten Gewande sich selbst bequem befindet. Wenn 
unsere Damen einmal das Kartoffelhacken und Kühemelken, das Mistfahren und 
Heumachen als Sport betreiben werden und wenn sich Altenburg als ein hierfür 
besonders geeigneter Boden erweist, dann ist zu hoffen, daß die Altenburger 
Tracht wieder Mode wird, dann werden wir mit besserem Erfolg den jungen 
Leuten aus den dortigen Dörfern zureden können, ihre Tracht zu behalten. 
Aber meine Absicht ist nicht zu scherzen. Unsere Tracht steht unter 
einem sehr strengen Herrn, nämlich unter der Oberhoheit der Konfektion, der 
fabrikmäßigen Schneiderei. Dadurch wird dem Träger die Möglichkeit sehr 
erschwert, sich individuell zu kleiden. Bestimmte von jeher weit mehr 
das Angebot als die Nachfrage die Beschaffenheit der Stoffe, war bei der 
Schneiderin im Hause oder bei dem auf den Geschmack des Bestellers Rück- 
sicht nehmenden Schneidermeister die Wahl des Rockes ein Gegenstand ge- 
meinsamer Beratung über die verschiedenen Modeblätter oder bei Einzelnen 
sogar über die persönlichen Wünsche, so kauft heute schon eine große Zahl 
von Bauern, mir will fast scheinen in Sachsen schon die Mehrzahl, nicht den 
Stoff, sondern das fertige Gewand: das heißt, aus einer sehr bescheidenen 
Zahl von Schnittarten wählt er den ihm passend erscheinenden. Seine Selbst- 
ständigkeit im Urteil wird durch den Umfang des Vorhandenen, durch die 
Größe der Auswahl beschränkt. Und der Händler hat den größten Vorteil 
davon, wenn die Zahl der Schnittarten, die er auf Lager haben muß, so 
klein als möglich wird. Der Armere wechselt den Rock erst, wenn er abge- 
tragen ist, nicht wenn er unmodern geworden ist. Giebt es alle Jahre eine 
Sorte Röcke für Altere und eine für Jüngere, so ist er aller Wahl und 
aller Qual enthoben. Er kriecht in die Uniform, welche die Konfektion ihm 
aufzwang, die Großindustrie ihn zu wählen nötigt.
	        
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