Cornelius Gurlitt: Die Zukunft der Volkstrachten. 561
Gehen wir einmal durch die Geschäfte Dresdens, auch die vornehmeren,
und suchen wir, wie groß die Auswahl in der Tracht z. B. eines Knaben
von 8 Jahren ist! Vergleicht man damit Modejournale aus der ersten
Hälfte des Jahrhunderts, so wird man stannen, wie weit wir an Phantasie
durch die Großindustrie heruntergekommen, wie geistlos die Tracht heute ge-
worden ist, namentlich die männliche.
Dem Bauernmädchen gehen mit den Zeitungen die Reklamebilder zu;
da heißt es: „Facon Norma, ein fesches Jacket; Frida, ein apartes Jacket;
Selma, ein chikes Jacket!“ Aber Norma, Frida und Selma sehen aus, als
seien sie alle aus derselben Schachtel genommen. Das Bauernmädchen hat
nur die Wahl, mit dem fesch, apart oder chik sich abzufinden, so gut es gehen
will, wenn sie in der Stadt kaufen will die Stoffe die sie zu ihrer Volks-
tracht braucht, von diesen sagt der Händler ihr lächelnd: Meine Beste, das
führen wir nicht! Und findet sie den Stoff, so muß sie das Kleid selbst
schneidern. Trotzdem wird es ihr teuerer, als das in Masse erzeugte Kon-
fektionsstüc!! Es giebt Länder, in denen die Volkstracht erhalten bleibt.
Nur zu oft zeigt sich in ihr eine künstliche Ländlichkeit. Die Schweizerinnen,
die auf den Bahnhöfen und in den Hotels Blumen ausbieten, ihre vier-
länderischen Schwestern in Hamburg, die Chioccaren-Modelle der spanischen
Treppe in Rom oder die Hochland-Dudelsackpfeifer in Glasgow — sie sind
nicht gerade erfreuliche Erscheinungen. Wenn das Geschäft vorüber ist, ziehen
sie sich „fein“ an, denn das Volkskleid ist ihnen nur noch ein Stück Geschäft.
Der Bauer, der sich in seiner Tracht selbst „kostümiert“ vorkommt, der ist
kein erstrebenswertes Ziel.
Aber einen Weg giebt es, die Eintönigkeit der Mode zu durchbrechen.
Dieser wird rüstig beschritten und bringt uns das erwünschte Leben in die
trostlose Tagestracht: nämlich die Absage gegen die Spießbürgerei, gegen die
Leute ohne eigenen Geschmack, die über das ihnen Fremdartige lächeln. Es
gehörte für die ersten Radler Mut dazu, für Männlein wie für Weiblein,
die für ihr Beginnen bequeme Tracht öffentlich zu zeigen. Sie haben gesiegt.
Alle die vielen Bestrebungen auf „rationelle" Tracht, so oft auch die so arg
mißbrauchte ratio dabei recht ungeschickte Anzapfungen sich gefallen lassen
muß, scheinen mir durchaus unterstützenswert. Ich habe stets, auch in der
Offentlichkeit, zu den Verteidigern Pudors und Dieffenbachs gehört, der Apostel
für „naturgemäße" Kleidung. Nicht weil sie mich überzeugt hatten, daß ihr
Gewand das für uns alle Richtige sei, sondern weil ich die Beschäftigung
mit solchen Fragen für nützlich halte. Ich habe Pudors Bestrebungen allezeit
für klüger gehalten, als die Witze, die über sie gemacht wurden; denn das
Dümmste in Kleiderfragen ist doch wohl das Hinleben unter der Knechtschaft
der Mode, wie wir, oder wenn das kränken sollte, wie ich es betreibe: dessen
bin ich mir ganz klar, daß mein schwarzer Frack viel lächerlicher ist, als das
Wuttke, sächsische Volkskunde. 2. Aufl. 6 36