3. Dir germanischen Bewohner Lachsens
vor der öluwenzeit.
Von Ludwig Schmidt.
Wohl kaum ein Kulturvolk ist in der Lage, seine Entwickelung an der
Hand schriftlicher Aufzeichnungen so weit zurückzuverfolgen, wie das ger—
manische; wir verdanken dies dem glücklichen Umstand, daß sie sich unter
den Augen und, was noch wichtiger ist, unter steter direkter Bedrohung der
römischen Welt vollzog. Die hierdurch veranlaßten, auf uns gekommenen
Beobachtungen sind um so wertvoller, als sie im allgemeinen durch Nüchtern-
heit und Objektivität der Auffassung ausgezeichnet sind. Wo solche Über-
lieferungen fehlen, treten die Sprachgeschichte und Mythologie, die Rechts-
geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Ortsnamenkunde und Archäologie ergänzend
ein, und es ist den Forschungen auf diesen Gebieten in neuerer Zeit gelungen,
manche schmerzlich empfundene Lücke durch zuverlässige Ergebnisse auszufüllen.
Die Frage freilich, zu welcher Zeit und in welcher Weise die Einwanderung
unserer Urväter in ihre späteren Sitze erfolgte, ist noch nicht zu einer
befriedigenden Lösung gelangt. Am wahrscheinlichsten halte ich die Annahme,
daß die Germanen von der skandinavischen Halbinsel aus, und zwar die
späteren Westgermanen auf dem Wege über die jütische Halbinsel, die Ost-
germanen (Wandilier) aber später unter Zurücklassung der Nordgermanen
direkt über das Meer in Deutschland eingedrungen sind. Hier haben sie
außer in Schleswig und Holstein zunächst in der Tiefebene zwischen mittlerer
und unterer Elbe und Weichsel festen Fuß gefaßt. Aber die wachsende
Volkszahl nötigte sie bald zu weiterer Ausbreitung; diese richtete sich nament-
lich gegen die Kelten, deren Gebietsgrenzen in Mitteleuropa gegen Osten und
Norden durch die Linien Weser, Leine, Thüringerwald, Erzgebirge, Sudeten
bezeichnet werden und welche nach und nach aus ihren Sitzen verdrängt
wurden. Die zahlreichen Kämpfe, welche die Römer mit Völkerschaften
keltischen Stammes an ihren Grenzen zu bestehen hatten, sind zumeist auf
die in Deutschland sich vollziehenden gewaltigen Umwälzungen in den Besitz-