72 Ed. O. Schulze: Verlauf und Formen der Besiedelung des Landes
Erst von hier aus gewinnt man den richtigen Standpunkt für die Be-
urteilung und Würdigung der Kolonisationsarbeit der späteren Jahrhunderte.
Fast 3/ des heutigen Deutschen Reichs, die Gebiete, auf denen die später
führenden Staaten Oesterreich, Sachsen, Brandenburg-Preußen, erblühen
sollten, waren damals flawisches Land. Erst durch Jahrhunderte lange
Arbeit sind fie deutschem Wesen und Leben zurückgewonnen.
Wahrlich die größte That, die dem deutschen Volk im Mittelalter ge-
lungen ist. Weniger glänzend nach außen, als die gleichzeitigen Kämpfe des
süddeutschen Heldengeschlechtes der Hohenstaufen um das sonnige Land der
Hesperiden, aber unendlich folgenreicher und bedeutungsvoller für die Ent-
wicklung und Zukunft des deutschen Volkes und Reiches.
Zwei Perioden sind in der deutschen Besiedelung des Landes zu unter-
scheiden. Die erste, vom 10. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts reichend,
ist die der Eroberung und der Organisation der deutschen Herrschaft; sie ist
charakterisiert durch die Festsetzung zahlreicher ritterlicher Herren und Dienst-
mannen, unter Einführung der deutschen Grasschaftsverfassung. Die zweite
Periode, etwa das 12. und 13. Jahrhundert umfassend, ist die der eigent-
lichen Kolonisierung und Germanisierung, charakterisiert durch die Ansetzung
deutscher Bauern und weiterhin durch die Anlage deutscher Städte.
1 Die Eroberung und die Begründung der deutschen Herrschaft.
Die Eroberung des Sorbenlandes wird, besonders in älteren Schriften,
nicht selten kritiklos auf Karl d. Gr. zurückgeführt. Das ist völlig unhalt-
bar. Bis in das 10. Jahrhundert hinein beschränkte sich die Politik der
fränkisch-deutschen Herrscher gegenüber den Wenden darauf, Böhmerwald,
Saale und Elbe als Grenze zu behaupten. Durch Errichtung von Marken“)
und durch Erbauung fester Plätze suchten sie diese Grenze zu sichern, durch
Kriegszüge die Gegner zu strafen und sie, wenn möglich, in gewisse Ab-
hängigkeit zu bringen, die aber nur in Tributzahlung und gelegentlicher
Heeresfolge sich äußerte.
Eine Ausdehnung des Reiches über jene Linie hinaus wurde nicht er-
strebt. Auch nicht von Heinrich I. Auch dieser begnügte sich, die besiegten
Heveller, Daleminzier und Czechen zu Tribut zu verpflichten und die Grenze
gegen sie der Obhut kriegserprobter Männer mit ausgedehnten Machtbefugnissen
zu unterstellen. Drückender und unmittelbarer machte seitdem zwischen Saale
und Elbe die deutsche Herrschaft sich geltend, auf einzelne Militärposten gestützt.
Die Anlage Meißens nach der Niederwerfung der Daleminzier (928) setzt
eine Verbindungsstraße nach Westen voraus, die natürlich durch Befestigungen,
*) Grenzgrafschaften größeren Umfanges unter Grafen mit ausgedehnten militärischen
Befugnissen.