Object: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Erster Band. (1)

1. H. Brunner, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts. 83 
nachweisen läßt, mitunter auf Jahrhunderte hinaus beherrschten. Unter ihnen seien als die 
wichtigsten hervorgehoben: 1. die formulae Andecavenses, vermutlich das Formel- 
buch eines Schreibers der städtischen Kurie oder eines Gerichtsschreibers der Stadt Angers, 
aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts; 2. die formulae Marculfi, von einem Mönche 
Markulf abgefaßt und einem Bischof Landerich gewidmet, der von manchen als Bischof von 
Paris, von anderen als Bischof von Meaux betrachtet wird. Die Sammlung, deren Entstehungs- 
zeit in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts fällt, bietet in einem ersten Buche Muster für 
cartae regales, in einem zweiten Formulare für Privatkunden, cartae pagenses; 3. die 
formulae Turonenses, jünger als Markulf, aber noch der merowingischen Zeit angehörig, 
in Tours vermutlich um die Mitte des 8. Jahrhunderts verfaßt; 4. die formulae Seno- 
nenses, unpassend auch Appendix Marculki genannt, wahrscheinlich das Formelbuch eines 
Schreibers des Grafen von Sens. Der Grundstock der Sammlung entstand in den Jahren 768 
bis 775; 5. die formulae Bignonianae, auf salischem Rechtsgebiete vor 775 entstanden; 
6. eine westfränkische Formelsammlung, welche Merkel zuerst herausgegeben hat, erst in 
karolingischer Zeit in einer Gegend mit dichter salischer Bevölkerung abgefaßt, aber doch schon 
um 775 durch einen Nachtrag aus den Bignonschen Formeln ergänzt und später mit weiteren 
Zusätzen versehen; 7. die formulae Salicae Lindenbrogianage, eine zuerst von 
Lindenbruch veröffentlichte Sammlung, die auf altsalischem Boden, vermutlich in den Ge- 
bieten an der Maas und Schelde, gegen Ausgang des 8. Jahrhunderts entstand; 8. die formalae 
imperiales, Formeln für Kaiserurkunden, um 830 in der Kanzlei Ludwigs I. zusammen- 
gestellt; 9. das sogenannte Formelbuch des Bischofs Salomo III. von Konstanz, das der 
Mönch Notker der Stammler gegen Ende des 9. Jahrhunderts in Sankt Gallen, 
zusammenschrieb. 
Das germanische Urkundenwesen ist aus dem spätrömischen Urkundenwesen hewor- 
gegangen, hat aber im Laufe seiner selbständigen Weiterentwicklung tiefgreifende Umgestal- 
tungen erfahren. Die Urkunden scheiden sich in Königsurkunden und Privaturkunden. Nur 
die Königsurkunden, von denen die diplomata, capitularia, placita und indiculi als Rechts- 
denkmäler am meisten ins Gewicht fallen, sind öffentliche, d. h. an sich beweiskräftige, weil un- 
anfechtbare Urkunden. Im Gegensatz zu den Privaturkunden können sie der Zeugen entbehren, 
eine Eigenschaft, welche die langobardische Geschichtsurkunde mit ihnen teilt. Die Privat- 
urkunden zerfallen in cartae und notitiaa. Die carta ist konstitutive Urkunde, Geschäfts- 
urkunde. Durch sie soll das Rechtsgeschäft, das sie beurkundet, nicht bloß bewiesen, sondern 
abgeschlossen werden. Sie wird von dem Vertragsgegner des Destinatärs der Urkunde, d. h. 
desjenigen, der sie erhalten soll, ausgestellt. Die Form des mittels carta abzuschließenden 
Rechtsgeschäftes bildet der Urkundungsakt, welchem die traditio cartae, die Begebung der (noch 
unvollständigen) Urkunde aus der Hand des Ausstellers in die Hand des Destinatärs, wesentlich 
ist. Bei der Ubergabe werden von dem Aussteller mündliche Erklärungen über das abzuschließende 
Rechtsgeschäft abgegeben, denen der Text der Urkunde in dem die rechtliche Disposition ent- 
haltenden Teile entspricht. Nach der Begebung der carta nehmen die Zeugen die firmatio, 
roboratio, stipulatio, die Handfestung vor, darin bestehend, daß sie die Urkunde entweder be- 
rühren (cartam tangere) oder signieren oder unterschreiben. Die Unterzeichnung durch den 
Aussteller ist üblich, aber nicht wesentlich. Schließlich vollzieht der Schreiber die Urkunde durch 
seine Unterschrift. Eine besondere Form der Urkundentradition bestand bei den Franken, 
Alamannen und anderen Stämmen. Hier pflegte nämlich der Aussteller die carta von der 
Erde aufzunehmen (cartam levare; vgl. kinem levare im englischen Rechte, Protest levieren 
im Wechselrechte), um sie dann dem Destinatär darzureichen. Die notitin ist schlichte Be- 
weisurkunde, d. h. sie hat nur die Aufgabe, als Beweismittel zu dienen, und ist daher im Tone 
eines Referates gehalten. Sie beurkundet entweder gerichtliche Handlungen oder außer- 
gerichtliche Rechtsgeschäfte. Letzterenfalls ist das Rechtsgeschäft nicht etwa mittels der Ur- 
kunde, sondern unabhängig von ihr zustande gekommen. Aussteller der notitia kann der De- 
stinatär selbst sein. Die Zeugen der notitia sind nicht Zeugen des Urkundungsaktes, sondern 
des Rechtsgeschäftes, das vor der Beurkundung zum Abschluß gelangt war. Eine firmatio 
testium ist hier nicht erforderlich. Es genügt, daß die notitia die Gegenwart der Zeugen zu 
einem Bestandteile des Berichtes macht, den sie über die beurkundete Handlung erstattet. 
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