Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
II. Buch. Die Reichsversicherung. 75 
  
punkt nahm, zu bemerkenswerter Bedeutung gelangt, die das Ziel verfolgte, den 
sogen. Privatbeamten eine Sicherung für ihren Lebensabend zu gewähren. Zwischen den 
in sich freilich außerordentlich abgestuften Arbeiterklassen und den führenden selbständigen 
Kräften der Unternehmer unserer Volkswirtschaft schob sich seit einiger Zeit ein WMittel- 
stand ein, der besonders in Handel und Industrie zur Förderung dieser großen Erwerbs- 
zweige durch seine Intelligenz, Arbeitsfreudigkeit, vielfach seinen Erfindungsgeist beitrug 
und dessen bodenständige Gesinnung große Bedeutung hatte. Den Leistungen dieses 
Berufskreises standen aber nicht entsprechende finanzielle Vorteile gegenüber, da der 
Ourchschnitt der sogen. Privatbeamten eine seiner Vorbildung und Bedeutung ent- 
sprechende Einnahmehöhe nur in Ausnahmefällen erreichte. Hinzu kam, daß die 
Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft zu einer stetigen Herabminderung der 
selbständigen Existenzen führt, so daß die Sorge für den täglichen Lebensunterhalt 
sich mit derjenigen über die Zukunft der Familie und das eigene Alter verbindet. 
Es kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden, welche Gründe für und 
wider sprachen, gerade für diese Schichten, die den rein geistig Arbeitenden näher als 
den eigentlichen Arbeitern standen, eine besondere Pensionsversicherung, die auch mit 
einem Heilverfahren im Falle der Krankheit verbunden ist, zu gewähren. Mancherlei 
parteipolitische Gesichtspunkte haben hier ihre Rolle gespielt. Aber der Gedanke, auch 
dieser Berufsschicht die Möglichkeit einer Fürsorge im Falle der Berufsunfähigkeit und 
des Alters zu geben, war gesund. Has Versicherungsgesetz für Angestellte vom 
20. Dezember 1911 mag in vielen Punkten lückenhaft, in Ausdruck und Sinn verbesse- 
rungsbedürftig sein: man wird nicht in Abrede stellen können, daß es einen außerordent- 
lich wertvollen Zweig der Sozialversicherung bildet. 
Es tritt nunmehr die Aufgabe an uns heran, den wesentlichen Kern dieser beiden 
großen Kodifikationen zu umreißen. 
II. 
Kreis der einbezogenen Personen. —— — 
mmt esinerster Reihe darauf an, wer von 
Pflicht und Recht zur Versicherung. ihr zu seinem Wohle ergriffen wird und 
welche Leistungen geboten werden. Während das Krankenversicherungsgesetz vom Jahre 
1883 eine Anzahl von Betrieben aufzählt, diese in den späteren Novellen vermehrt und 
lediglich die in solchen beschäftigten Personen der Versicherungspflicht unterwarf, hat die 
&. von einer solchen Beschränkung abgesehen. Bielmehr werden bestimmte Berufs- 
kreise, umabhängig davon, ob sie in einem genauer bezeichneten Betriebe beschäftigt sind, in 
die Versicherung einbezogen. Das ist eine Erweiterung von größter Bedeutung, die gleich- 
zeitig die vielen heillosen Streitigkeiten über die Zugehörigkeit zur Krankenversicherung auf 
ein ganz geringes Maß berabzumindern berufen ist. Wenn man feststellt, daß für den 
Fall der Krankheit nunmehr versichert werden alle Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehr- 
linge, Dienstboten, Betriebsbeamte und Werkmeister, Hausgewerbetreibende, die Schiffs- 
besatzung deutscher Seefahrzeuge, so wird man kaum Berufskreise in den Grenzen der 
arbeitenden Klassen denken können, die nicht der Vorteile des Gesetzes teilhaftig werden. 
  
  
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