Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
26 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
„Die Basis einer gesunden und vernünftigen Weltpolitik ist eine kräftige nationale 
Heimatpolitik.“ Das sagte ich im Dezember 1901, als der Abgeordnete Eugen Richter 
einen Gegensatz hatte konstruieren wollen zwischen der Politik, die dem neuen Zoll- 
tarif zugrunde lag, die den Schutz der heimischen Arbeit, insbesondere der landwirt- 
schaftlichen, bezweckte, und der neuen Weltpolitik, die den Interessen des Handels folgte. 
Der scheinbare Gegensatz war tatsächlich ein Ausgleich, denn die deutsche Weltwirtschaft 
war hervorgegangen aus einem zu höchster Blüte entwickelten nationalen Wirtschafts- 
leben. Die Verbindung zwischen Politik und Volkswirtschaft ist in unserer modernen 
Zeit eine innigere als in der Bergangenheit. Die modernen Staaten reagieren mit 
ihrer inneren wie mit ihrer auswärtigen Politik unmittelbar auf die Schwankungen 
und Veränderungen des hochentwickelten wirtschaftlichen Lebens, und jedes bedeutsame 
wirtschaftliche Interesse drängt alsbald in irgendeiner Weise zum politischen Ausdruck. 
Der Welthandel mit allen Lebensinteressen, die von ihm abhängen, hat unsere Welt- 
politik notwendig gemacht. Das heimische Wirtschaftsleben fordert eine entsprechende 
Heimatpolitik. Hinüber und herüber muß ein Ausgleich gesucht und gefunden werden. 
Sieben Jahre nach den Zolltarifverhandlungen kam der damals wirtschaftspolitisch 
umstrittene Ausgleich zwischen deutscher Welt- und Heimatspolitik in der großen Politik 
zur Geltung bei Gelegenheit der bosnischen Krise im Jahre 1908. Dies Ereignis ist 
vielleicht besser als jede akademische Erörterung geeignet, das rechte wirkliche Verhältnis 
zwischen unserer überseeischen und unserer europäischen Politik Uarzulegen. Oie deutsche 
Politik bis zur Aufrollung der bosnischen Frage war vorwiegend beherrscht von den 
Rücksichten auf unsere Weltpolitik. Aicht als ob Deutschland seine auswärtigen Be- 
ziehungen nach seinen überseeischen Interessen orientiert hätte, aber weil das Mißfallen 
Englands an der Entfaltung des deutschen Uberseehandels und insbesondere an der Er- 
starkung der deutschen Seemacht auf die Gruppierung der Mächte und ihre Stellung 
zum Deutschen Reich einwirkte. Die öffentliche Meinung des sonst so besonnenen und 
unerschrockenen englischen Volkes überließ sich zeitweise einer gänzlich unbegründeten, 
ja sinnlosen und deshalb fast panikartigen Besorgnis vor einer deutschen Landung in 
England. Von einem nicht kleinen Teil der weitverzweigten und mächtigen englischen 
Presse wurde diese Besorgnis spstematisch genährt. 
Hie englische Einkreisungspolitik. n der englischen Politik machte sich seit 
dem Anfang des neuen FZahrhunderts 
der Einfluß König Eduards VII. geltend, eines Monarchen von ungewöhnlicher Menschen- 
kenntnis und Kunst der Menschenbehandlung, von reicher und vielseitiger Erfahrung. 
Die englische Politik richtete sich nicht so sehr direkt gegen die deutschen Interessen als 
daß sie versuchte, durch eine Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse Deutsch- 
land allmählich mattzusetzen. Sie suchte durch eine Reihe von Ententen, denen zuliebe 
vielfach nicht unwichtige britische Interessen geopfert wurden, die anderen Staaten 
Europas an sich zu ziehen und so Deutschland zu isolieren. Es war die Ara der sogenannten 
englischen Einkreisungspolitik. Mit Spanien war ein Nittelmeervertrag geschlossen 
worden. Frankreich kam dem Widersacher des Deutschen Reichs selbstverständlich ent- 
  
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