Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. Auswärtige Politik. 27 
  
gegen, und der britisch-französische Vertrag über Agypten und Marokko im Zahre 1904 
ließ die Erinnerung an Faschoda völlig in den Hintergrund treten. Rußland hatte sich 
unter der Nachwirkung der schweren Niederlagen, die es im Krieg mit Zapan zu Lande 
und zu Wasser erlitten hatte, und schwerer innerer Unruhen zu einer Abmachung mit 
England über die Interessensphären in Asien entschlossen und damit England genähert. 
Ztalien wurde mit Eifer umworben. Ahnliche Bemühungen gegenüber Österreich- 
Ungarn scheiterten gelegentlich der Monarchenzusammenkunft in Ischl an der unerschütter- 
lichen Bündnistreue des greisen Kaisers Franz Joseph. In Algesiras hatten wir einen 
schwierigen Stand, obwohl Deutschlands Politik das eigene nationale Interesse als 
Elied der allgemeinen internationalen Interessen gegen die von England gestützten fran- 
zösischen Ansprüche vertrat. Die Einkreisungspolitik schien damals in der Konstellation 
der Mächte äußerlich standzuhalten, wiewohl durch das Zustandekommen der Konferenz 
überhaupt und ihre wichtigsten Beschlüsse die Absichten der deutschen Politik mit Bezug 
auf Marokko im wesentlichen erreicht worden waren. Es war nun die Frage, wie das 
Ententenspstem auf dem Gebiete der eigentlichen europäischen Politik bestehen würde. 
Hie bosnische Krise. Die endgültige Einverleibung der Provinzen Bosnien 
und Herzegowina, die Osterreich gemäß den Bestimmungen 
des Berliner Kongresses seit 1878 besetzt bielt, in das österreichisch-ungarische Staatsgebiet 
führte eine große europäische Krise herauf. Kußland widersetzte sich dem österreichischen 
Vorgehen. Im Vertrauen auf den scheinbar unmittelbar bevorstehenden bewaffneten 
Austrag der alten österreichisch-russischen Balkanrivalität glaubte Serbien, das seine 
großserbischen Pläne durchkreuzt sah, gegen die HDonaumonarchie zum Kriege rüsten zu 
dürfen. England stellte sich auf die russische Seite und die von der englischen Presse 
geführte Sprache lg fast leidenschaftlicher als die Stimmen, die uns aus Rußland 
entgegenschallten. Die Spitze der englischen Politik schien sich weniger gegen Osterreich 
als gegen das mit Osterreich verbundene Deutschland zu richten. Es war das erstemal, daß 
das deutsch-österreichische Bündnis vor einem schweren Konflikt seine Haltbarkeit und Stärke 
erweisen sollte. Ich ließ in meinen Reichstagsreden keinen Zweifel, daß Deutschland ent- 
schlossen sei, unter allen Umständen am Bündnis mit Österreich-Ungarn festzuhalten. Das 
deutsche Schwert war in die Wagschale der europäischen Entscheidung geworfen, unmittel- 
bar für unseren österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mittelbar für die Erhaltung des 
europäischen Friedens und vor allem und in erster Linie für das deutsche Ansehen und die 
deutsche Weltstellung. Die Stunde war da, die zeigen mußte, ob Deutschland durch die 
Einkreisungspolitik wirklich mattgesetzt war, ob die in den Kreie der antideutschen Politik 
gezogenen Mächte es mit ihrem europäischen Lebensinteresse vereinbar finden würden, 
feindlich gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten aufzutreten oder nicht. Der 
Verlauf der bosnischen Krise wurde tatsächlich das Ende der Einkreisungspolitik. Keine 
Macht zeigte Lust, die eigenen europäischen Interessen fremden weltpolitischen Interessen 
unterzuordnen und die eigenen Knochen für andere zu Markt zu tragen. Die sehr über- 
schätzte Konstellation von Algesiras zerbarst an den handfesten Fragen der Kontinental- 
politik. Italien blieb an der Seite seiner Verbündeten, Frankreich verhielt sich abwartend 
  
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