Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
88 Völkerrecht. III. Buch. 
  
Kein Staat, der die bestehenden internationalen Verhältnisse nüchtern beurteilt 
und Wert auf seine Soupveränität legt, wird daher Bestrebungen Vorschub leisten, die 
auf eine Weltföderation hinzielen?. 
Ebenso ist aber auch der Widerstand durchaus berechtigt, den verschiedene Staaten, 
darunter namentlich Deutschland, der Einführung der obligatorischen Schiedssprechung 
und dem Abschlusse eines auf diesem Grundsatze beruhenden Weltschiedsvertrags ent- 
gegengesetzt haben, da ein solcher Weltschiedsvertrag nur die Vorbereitung für die Welt- 
föderation sein soll. Haben sich einmal die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft 
in bezug auf alle Streitigkeiten einem ein für alle Male bestellten Weltschiedsgericht 
unterworfen, so sind in der Tat die weiteren Konsequenzen nicht abzusehen. 
Herrschaft der Phrasen In der Gegenwart herrschen sowohl in bezug auf die 
und der Schlagworte. innerpolitischen. Verhältnisse wie hinsichtlich der inter- 
nationalen Beziehungen in hohem Grade Phrasen und 
Schlagworte. Wenn in der Presse, in öffentlichen Versammlungen oder in Parlamen- 
ten von Fortschritt, Freiheit und Gleichheit, allgemeinem Wahlrecht, sozialpolitischen 
Aufgaben des Staates oder von Solidarität aller Völker, „Flutwelle des Internationa-- 
lismus“ usw. die Rede ist, werden oft auch sonst nüchtern denkende Menschen so be- 
einflußt, daß sie entweder die gegebenen Verhältnisse nicht mehr ganz klar sehen oder 
sich zu schwach fühlen, der herrschenden Strömung erfolgreichen Widerstand entgegen- 
zusetzen. 
Infolgedessen macht sich in unserm öffentlichen Leben, namentlich auch soweit es 
internationale Verhältnisse zum Gegenstand, eine gewisse Unwahrheit und Heuchelei 
geltend?), die auch bei den Verhandlungen der beiden Friedenskonferenzen sich recht 
deutlich gezeigt hat. Gewiß ist diese Unwahrheit in der Regel unbewußt, trotzdem ist sie 
schädlich, weil selbst maßgebende Persönlichkeiten durch dieselbe veranlaßt werden, die 
bestehenden Verhältnisse in falschem Lichte zu sehen und daher nicht zutreffende Ent- 
schließungen zu fassen. 
Es ist hohe Zeit, daß diese Herrschaft der Phrase und der Schlagworte ihr Ende er- 
reicht, denn es ist Mar, daß Fortschritte im Völkerrechte nicht durch utopistische, mit den 
Grundlagen der geltenden Völkerrechtsordnung im Widerspruch stehende Bestrebungen 
erzielt werden können, sondern nur dadurch, daß auf den bestehenden Grundlagen vor- 
sichtig und ruhig weitergebaut wird. Die Mittel und Wege dazu sind in der bereits 
1) Ee ist eine pspchologisch merkwürdige Erscheinung, daß in einer Zeit, die, wie man sagt, auf dem Zn- 
dividualismus beruht und in der so viel davon gesprochen wird, daß die Einzelindividuen sich entwickeln und 
ausleben sollen, eine Bewegung Einfluß gewinnen konnte, die schließlich auf Vernichtung der Selbständig- 
keit und Eigenartigkeit der einzelnen Staaten und Nationen abzielt und alles in ein Völkergemisch verwandeln 
möchte, wie es schließlich im römischen Weltreich herrschte und sehr viel zu dessen Untergang beitrug, wie dies 
Chamberlain, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, nachgewiesen hat. 
2) In der bemerkenswerten Abhandlung: „Friedensbestrebungen und Rüstungsbeschränkung“ in der 
vom Deutschen Flottenverein herausgegebenen Schrift: „Deutschland sei wach!“ (1912) heißt es mit Recht 
S. 118: „Noch traut kein Staat dem andern und die internationale Lüge ist ein Charakteristikum der Gegen- 
wart. Während Überall pochtönende Friedensversicherungen erklingen, ist die Unsicherheit des Friedens 
größer denn je, wie die jüngste Vergangenheit zur Genüge bewiesen hat.“ 
  
  
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