Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
o4 Internationales Privatrecht. IIl Such. 
  
der Gewohnheit erklärt, wenn man den alten Ausdruck noch beibehält. Was früher 
so hieß, deckte sich in der Hauptsache mit der alten Lehre von der — privatrechtlichen — 
Statutenkollision, und wie Friedrich Meili, der verdiente schweizerische Vor- 
kämpfer für Modernisierung des internationalen Privatrechts überzeugend dargetan 
hat, ist die gemeinrechtliche Lehre über die alte (von Bartolus herrührende, daher 
auch als bartolinische Lehre bezeichnete) Statutentheorie nicht binausgekommen. In 
den jüngst verflossenen JZahrzehnten aber ist die Wissenschaft zu der Erkenntnis ge- 
kommen, daß diese Lehre nur ein kleiner Ausschnitt aus Problemenreihen 
größten Stiles ist. Man hat vor allem erkannt, daß die Probleme, welchen man zunächst 
auf dem Gebiet des Privatrechts begegnet war, und deren Gegenstand man deswegen 
als internationales Privatrecht bezeichnet hatte, durch das gesamte Gebiet des 
öffentlichen Rechtes (mit Ausnahme vielleicht — aber auch nur vielleicht — des Völker- 
rechtes) hindurchgehen. Am frühesten bemerkte man dies für das Strafrecht (daher 
auch Böhms „Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht"). Aber sehr bald 
mußte man auch darauf aufmerksam werden, daß das Prozeßrecht (Straf-, Zivil-, 
Konkurs-Prozeß) entsprechende Erscheinungen und Probleme bietet. Und zuletzt (be- 
sonders ist es Karl Neumeyers Verdienst, dieses Gebiet aufgeklärt und gefördert zu 
haben) wurde entdeckt, daß das Staats- und Verwaltungerecht eine Fülle gleich- 
artiger Probleme enthält, so daß man neben dem internationalen Privatrecht im alten 
Sinn nicht nur von internationalem Straf-, Prozeß-, Verwaltungs-, sondern auch 
von internationalem Schulrecht, internationalem Finanzrecht, internationalem Arbeiter- 
versicherungsrecht spricht. Wissenschaftliche und praktische Aufgaben von unüberseh- 
barem Umfang und von ebenso großem wissenschaftlichem Reiz wie von praktischer Wichtig- 
keit sind hiermit gegeben. Ganze Provinzen des internationalen Rechtslebens harren 
hier noch der wissenschaftlichen Pflugschar. #ls leicht verständliche Beispiele seien 
hier die Fragen der Staatsangehörigkeit der Personen, der Nationalität der Schiffe, der 
militärischen Dienstpflicht, des Geschworenendienstes, der Steuer-, Schul-, Versicherungs- 
pflicht im Ausland, die Fragen der Weltausstellungen, der wissenschaftlichen Expedi- 
tionen, der Kriminalpolizei auf hoher See genannt. 
Daß biese Fragen auch eine völkerrechtliche Seite haben, 
ist keine Eigentümlichkeit gegenüber den früher erörterten 
Fragen. Denn jedes Problem des internationalen Privatrechts, auch im alten Sinn, 
hat eine völkerrechtliche Seite. Alle diese Fragen — um ee allgemeinverständlich zu 
sagen — können durch völkerrechtliche Verträge geregelt werden. Sie finden auf diese 
Weise meist ihre beste Lösung. Und das ist die tief in der Sache begründete Folge ihrer 
Natur. Denn abgesehen von dem auf einem anderen Blatt stehenden sog. interlokalen 
Privatrecht, das die Rechtsverschiedenheiten innerhalb eines Staates betrifft, ist alles 
internationale Privatrecht dem Maßstab des Ausgleiches internationaler Diver- 
genzen unterworfen. Dies ist auch dann zutreffend, wenn der Ausgleich zunächst mißlingt. 
Wie die noch nicht gelösten Probleme des Völkerrechts neben den bereits gelösten 
den Gegenstand der Völkerrechtswissenschaft bilden, so sind auch die Diskrepanzen des 
Völkerrechtliche Seite. 
  
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