Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
IV. Buch. Seemacht und Kriegeflotte. 37 
  
So spinnen sich hier die Fäden hinüber zum FHlottengesetz. Aus der europäisch 
orientierten Flotte, die Rußland und Frankreich, unsere kontinentalen Nachbarn, als 
ihre wahrscheinlichsten Gegner ansah, begann die Flotte herauszuwachsen, die des Deut- 
schen Reiches Stellung in der ganzen Welt beschützen und, wenn es nicht zu vermeiden 
sei, auch der englischen sich zum Kampf stellen sollte. Denn die See macht alle Staaten 
zu Nachbarn, die an sie grenzen, und je mehr die induftriellen und kommerziellen Wege 
sich verknüpften und kreuzten, je mehr der Wettbewerb aller Konkurrenten die Reibungs- 
flächen und die möglichen Konfliktspunkte vermehrte, desto mehr mußte auch Deutschland 
als eine der Weltverkehrs- und Welthandelsmächte auf überseeische Kriegsmöglichkeiten 
gefaßt und vorbereitet sein. 
Das Flottengesetz. 
Veränderte Stellung der Oie allgemeine Begründung für die in den nächsten 
Jahren auf neuer Grundlage sostematisch beginnende 
Verstärkung der deutschen Flotte ist in den Schluß- 
worten des letzten Abschnitts schon enthalten. Den daraus im Auslande entstandenen 
Mißdeutungen und feindlichen Regungen gegenüber, wie zur Abwehr des jetzt allerdings 
geschwundenen Widerspruchs, den die maritimen Rüstungspläne des Kaisers in 
Deutschland selbst damals gefunden haben, muß immer wieder darauf bingewiesen 
werden, daß sie doch nur eine notwendige Folge der geschichtlichen Entwickelung waren. 
SNMh die Schwierigkeiten der politischen Lage England gegenüber, die daraus entstanden 
sind, kann nur ein kurzer geschichtlicher Rückblick in richtige Beleuchtung rücken. 
Wir mühssen bierbei zurückgehen bis zum Abschluß der Napoleonischen Kriege. Ohne 
Konkurrenten stand England damals da in der militärischen Beherrschung des Meeres und 
in der wirtschaftlichen Bevormundung der anderen Staaten, denen es den Verkehr mit 
der Welt vermittelte und für die es die Industrie besorgte. Denn jede Konkurrenz hatte 
das Inselreich in der langen Kriegszeit mit Waffengewalt erdrückt, und während es im 
eigenen Lande trotz aller Erschwerung durch den Krieg doch an der Arbeit bleiben und 
die Vorteile ausnützen konnte, die die technischen Erfindungen der damaligen Zeit boten, 
hatte der Landkrieg direkt, der Seekrieg indirekt die wirtschaftliche Entwickelung der 
Kontinentalstaaten niedergehalten. So hatte sich der Abstand zwischen dem immer schon 
mehr agrarisch organisierten Kontinent und dem handel- und industrietreibenden Insel- 
reich noch vergrößert, ja man kann sagen, eine Industrie im heutigen Sinne, d. h. auf 
Maschinenbetrieb sich gründende Großfabrikation, bestand nur in England. Oie durch 
den Krieg verarmten Landstaaten geboten ja auch noch lange Zeit nach dem Kriege 
nicht über genügende Kapitalien, um sich eine Großindustrie zu schaffen. 
Auch England hatte sich mit gewaltigen Schulden belasten müssen, um sich und sei- 
men kontinentalen Verbündeten die Fortsetzung des Widerstandes zu ermöglichen. Der 
Verschiedenheit von Landkrieg und Seekrieg entsprechend, hatte es aber mehr mit Geld 
Krieg geführt als durch Einsatz von Menschenleben, und diese Finanzierung des Bündnis- 
  
Staaten zum Seeverkehr. 
  
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