Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
46 Auswärtige Politik. I. Buch. 
  
für ein endliches, festes und ehrliches Vertrauens- und Freundschaftsverhältnis Raum ge- 
winnen. Oaß die Gefahr eines kriegerischen Zusammenstoßes zwischen Deutschland und 
England im Sommer 1911 nahegerückt schien, will keineswegs besagen, daß der bewaffnete 
Konflikt nur aufgeschoben, nicht aufgehoben sei. Esistschon öfters dagewesen, daß die Hiplo- 
matie am Ende ihrer friedlichen Mittel und in die Notwendigkeit versetzt schien, der bewaff- 
neten Macht die Fortführung der Auseinandersetzungen zu überlassen. Aber gerade die 
sichtbare Nähe dieses kritischen Momentes hat häufig genügt, die stockenden Verhandlungen 
wieder in Fluß zu bringen und zum friedlichen Ergebnis zu führen. Zu einem Ergebnis, 
das nicht nur für den Augenblick, sondern für die Dauer die gefährlichen Gegensätze be- 
seitigt. Kriegswolken gehören zum Bilde des politischen Himmels. Aber die Zahl derer, 
die sich entladen, ist ungleich geringer als die Zahl der Wolken, die sich verziehen. Gleich 
schwere, wenn nicht schwerere Gefahren haben den Frieden zwischen England und Frank- 
reich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts während der Zuli-Monarchie be- 
droht und zeitweise auch in der Epoche des zweiten Kaiserreichs. Zwischen England und 
Rußland schien 1885 gelegentlich der Zuspitzung der afghanischen Frage der Krieg un- 
vermeidlich. Alle diese bedrohlichen Wolken haben sich verzogen, ohne daß eine Ent- 
ladung erfolgt wäre. Die Behandlung unserer Beziehungen zu England verlangt eine 
besonders feste und stetige Hand. Wir wünschen freundliche, ja freundschaftliche 
Beziehungen, aber wir fürchten die unfreundlichen nicht. Dem entsprechend muß sich 
ODeutschland zu England stellen, das amtliche Deutschland sowohl wie die Nation selbst. 
Eine Politik des Nachlaufens ist so verfehlt wie eine Politik des Brüskierens. Das eng- 
lische Volk, das politisch reifste aller Bölker, würde sich durch keine noch so heiße Freund- 
schaftsbeteuerungen von einmal als vorteilhaft erkannten Beschlüssen abdrängen lassen 
und in Freundschaftsbeweisen, denen nicht ein erkennbares Interesse zugrunde liegt, 
nur ein Eingeständnis unserer Schwäche sehen. Auf der anderen Seite ist ein stolzes und 
tapferes Volk wie das englische ebensowenig wie das deutsche durch offene oder ver- 
steckte Drohungen einzuschüchtern. Wir stehen heute, auf eine achtunggebietende Flotte 
gestützt, England gegenüber anders da, als vor 15 Jahren, als es galt, einem Konflikt 
mit England nach Möglichkeit so lange aus dem Wege zu gehen, bis wir unsere Flotte 
gebaut hatten. Damals stand unsere auswärtige Politik bis zu einem gewissen Grade 
im Oienst unserer Rüstungefragen, sie mußte unter anormalen Verhältnissen arbeiten. 
Heute ist der normale Zustand wiederhergestellt: die Rüstung steht im Oienste der 
Politik. Die Freundschaft wie die Feindschaft des auf eine starke Flotte gestützten 
Deutschen Reichs haben heute für England naturgemäß einen anderen Wert als 
Freundschaft und Feindschaft des zur See ungerüsteten Deutschlands zu Ende der 
neunziger Jahre. Die Verschiebung des britisch-deutschen Kräfteverhältnisses zugunsten 
Deutschlands bedeutet für unsere auswärtige Politik England gegenüber eine große 
Entlastung. Wir brauchen nicht mehr darauf bedacht zu sein, sorgsam jede Verletzung 
unserer Sicherheit und Würde durch England zu verhüten, sondern wir dürfen, wie 
es deutscher Art gebührt, mit unserer Kraft für unsere Würde und unsere Interessen 
eintreten, England gegenüber zur See wie seit Zahrhunderten gegenüber den Mächten 
des Kontinents zu Lande. Wir müssen lange zurücksuchen in der deutschen Geschichte, 
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