Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

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I. Buch. I. Einführung. 63 
  
Spstematisierung, Schematisierung der Wirklichkeiten des politischen Lebens, nicht auf 
nüchterne Anpassung an die gegebenen politischen Tatsachen und Zustände, sondern auf 
deren Einordnung in logisch korrekt konstruierte Gedankenreihen. 
Wir Deutschen sind ja auf der einen Seite ein gefühlvolles, gemütstiefes Volk und 
immer gern, vielleicht zu gern bereit, aus gutem Herzen gegen die bessere Einsicht zu 
handeln. Aber auf der anderen Seite sind wir von ganz außerordentlichem logischen Fana- 
tismus und, wo für eine Sache eine gedankliche Formel, ein System gefunden ist, da drin- 
gen wir mit unbeirrbarer Zähigkeit darauf, die Wirklichkeit dem Sostem anzupassen. 
ODiese beiden Seiten zeigt der einzelne Deutsche in seinem privaten Leben, zeigt das Volk 
im öffentlichen Leben, und manche seltsame Erscheinung in Gegenwart und Vergangen- 
beit erklärt sich aus dieser Zwiespältigkeit unseres Charakters. Die auswärtige Politik, 
die anschließt an eine lange Reihe schmerzlicher und freudvoller nationaler Ereignisse, 
erleben wir gern mit dem Gefühl. Die innerpolitischen Vorgänge, über die sich die Nation 
in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit verstandesmäßig klar geworden ist, sind uns ein klassi- 
sches Gebiet für gedankliche Konstruktionen, für spstematische Sichtung und Schichtung 
geworden. Der Deutsche wendet auf die Politik selten die Methode des modernen Natur- 
forschers an, meist die des alten spekulativen Philosophen. Es gilt ihm nicht, mit offenen 
Augen vor die Natur hbinzutreten, zuzusehen, was geschehen ist, was geschieht und deshalb 
notwendig weiterhin geschehen kann und wird. Es wird vielmehr bedacht, wie die Dinge 
sich hätten anders entwickeln müssen, und wie sie hätten werden müssen, damit alles 
fein logisch zusammenstimmt, und damit das System zu seinem Recht kommt. Die 
Programme passen sich nicht der Wirklichkeit an, sondern die Wirklichkeit soll sich nach den 
Programmen richten, und zwar nicht in Einzelheiten, sondern im Ganzen. Aluf ihre innere 
Folgerichtigkeit, ihre spstematische BVollendung angesehen, sind die meisten deutschen 
Parteiprogramme höchsten Lobes wert und machen der deutschen Gründlichkeit und logi- 
schen Gewissenhaftigkeit alle Ehre. Am Maßstabe der praktischen Durchführbarkeit ge- 
messen, kann keines bestehen. 
Parteiprogramme. Die Politik ist Leben und spottet im Grunde wie alles 
Leben jeder Regel. Die Bedingungen der modernen Poli- 
tik liegen vielfach weit zurück in unserer Geschichte, wo sich die allerletzten Ursachen, die 
heut noch fortwirken, nicht selten im Unsichtbaren, Unerforschlichen verlieren. Aber mit 
der Erkenntnis aller Ursachen und Bedingtheiten wäre noch nichts gewonnen für die 
politische Praxis. Wir erführen doch nur, wie vieles geworden ist, nicht aber, was nun 
heute oder morgen geschehen soll. Fast jeder Tag schafft neue Tatsachen, stellt neue 
Aufgaben, die neue Entschlüsse fordern. Ganz wie im Leben der einzelnen Menschen. 
Und nicht einmal mit der Anpassung an den Tag, an die Stunde ist alles geschehen. Es 
muß auch nach dem Maß unserer Einsicht und Fähigkeiten für die Zukunft gesorgt wer- 
den. Was können da die Regeln eines zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegten Programms 
helfen, mag es noch so einheitlich in sich geschlossen und logisch begründet sein. Das 
reiche, sich immer wandelnde, komplizierte und täglich komplizierter werdende Leben 
eines Volkes läßt sich nicht auf das Prokrustesbett eines Programms, eines politischen 
  
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