II. Der nationale Gedanke und die Parteien.
Niemals habe ich ein Hehl daraus gemacht, auch nicht Liberalen gegenüber, daß ich
in vielen großen Fragen des politischen Lebens konservative Anschauungen teile. Ich
habe ebensowenig je die Tatsache verleugnet, daß ich kein konservativer Parteimann bin.
Daß ich es als verantwortlicher Minister nicht sein konnte, lag in der Natur meines Amts
und unserer deutschen Verhältnisse. Weshalb ich es persönlich nicht bin und mich trotz-
dem in wesentlichen Dingen für konservativ halte, erörtere ich nur deshalb, weil diese
Betrachtung in konkrete Fragen unserer jüngst vergangenen und gegenwärtigen deut-
schen Politik hineinführt.
Es ist wohl zu unterscheiden zwischen einem Staatskonserva-
tivismus, dem die Regierung folgen kann und einem Partei-
konservativismus, dem keine Regierung in Deutschland folgen darf, ohne in eine unter
allen Umständen verhängnisvolle Parteilichkeit zu geraten. Mit anderen Worten: Oie
Kegierungspolitik kann so lange mit der Politik der Konservativen Schritt halten, wie
diese dem wohlverstandenen Staatsinteresse entspricht. Das war und ist nicht selten der
Fall. Die Wege der Regierung mühssen sich von denen der konservativen Partei trennen,
wenn die Politik der Partei dem Interesse der Allgemeinheit, das die Regierung zu wah-
ren hat, nicht entspricht. Dabei kann die Regierung gegen die Partei doch konservativer
sein als die Partei gegen die Regierung. Konservativer in dem Sinne, daß sie die eigent-
lichen Aufgaben wahrer Staatserhaltung besser erfüllt. In solchen Lagen ist auch Fürst
Bismarck, der aus UÜberzeugung und mit Bewußtsein ein konservativer Staatsmann
war, in den schärfsten Widerspruch zu seinen alten Parteifreunden getreten. Er hat sich
bekanntlich gerade über diese Momente seiner Politik ausführlich ausgesprochen, sowohl
in seinem „Gedanken und Erinnerungen“, wie in den Gesprächen, die uns Poschinger
überliefert hat.
Die Aufgabe konservativer Politik ist von Graf Posadowsky gelegentlich treffend dahin
charakterisiert worden, eine konservative Politik müsse den Staat so erhalten, daß die Bürger
sich in ihm wohl fühlen. Solche Staatserhaltung ist ohne Veränderung bestehender Ein-
richtungen oft nicht denkbar. Der Staat muß sich modernen Lebensverhältnissen ampassen,
um wohnlich und damit lebenskräftig zu bleiben. Es wäre ein schweres Unrecht, in Abrede
stellen zu wollen, daß die konservative Partei oft und bisweilen williger als Parteien, die
den Fortschritt auf ihr Panier geschrieben haben, die Hand zu Neuerungen gereicht hat.
So im Fahre 1878, als die wirtschaftlichen Verhältnisse den großen Umschwung in der
Foll- und Wirtschaftspolitik notwendig machten. So bei Inaugurierung der Sozialpolitik,
die der veränderten Lage der lohnarbeitenden Klassen Nechnung trug. Aber bisweilen
standen die von der konservativen Partei vertretenen Interessen den Interessen entgegen,
Konservativismus.
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