Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
74 Innere Politik. I. Buch. 
  
auf einen mehr oder minder lahmen Kompromiß eingelassen hätte. Aber es handelte 
sich um einen jener Momente, wo im Interesse des Landes der Kampf geboten ist. Eine 
Regierung, die in einem solchen Augenblick vor dem Kampf zurückschreckt, um sich das 
Leben nicht zu erschweren, stellt die eigene Sache über die Sache des Vaterlandes. 
Hier gilt der militärische Grundsatz, daß Wirkung vor Deckung geht. Die Regierung ist 
für das nationale Interesse da, nicht das nationale Interesse für die Regierung. Ich 
hatte das Zentrum rechtzeitig auf die Konsequenzen seiner Haltung hingewiesen. 
Wenn nachträglich behauptet worden ist, das Zentrum habe nicht gewußt, um was 
es sich am Ende handele, so darf ich auf meine Reichstagsreden und Erklärungen 
in jenen bewegten Tagen hinweisen, die solche Behauptungen mehr als ausreichend 
widerlegen. Wenn ich nach Reden, wie ich sie am 28. November und am 4. Dezember 
1906 gehalten hatte, nicht entweder aufgelöst hätte oder zurückgetreten wäre, so würde 
ich mich nicht mehr auf der Straße haben sehen lassen können. Als die aus Zentrum, 
Sozialdemokraten, Polen und Elsässern bestehende Mehrheit des Reichstages sowohl 
auf der Herabsetzung des Nachtragsetats für Südwestafrika von 29 auf 20 Millionen 
bestand wie auf der Forderung nach einer Verminderung der Schutztruppe im kaum be- 
friedeten afrikanischen Aufstandsgebiet, wurde der Reichstag aufgelöst. Es galt, bei den 
Aeuwahlen, den Konservativen und Liberalen aller Schattierungen, die in der Minder- 
heit der Regierung zur Seite gestanden hatten, die Mehrheit zu erobern. 
Oie kolonialpolitische Haltung des Zentrums und der Sozialdemokratie, vornehm- 
lich der Versuch, dem Kaiser das Recht zu verkümmern, die Stärke der für die 
jeweilige Kriegslage in Südwestafrika notwendigen Truppenmacht kraft seiner ver- 
fassungsgemäßen Kommandogewalt zu bestimmen, waren an sich Grund genug, eine 
Veränderung der Mehrheitsverhältnisse durch Neuwahlen notwendig zu machen. Aber 
abgesehen von diesem unmittelbaren Anlaß schien mir und mit mir einer überwältigenden 
Zahl patriotischer Mitbürger eine Veränderung der parteipolitischen Konstellation, der 
parteipolitischen Machtverhältnisse durchaus erwünscht. 
Makl hat gesagt, wir seien 1907 gegen das Zentrum zu Felde gezogen und hätten 
gleichsam zufällig die Sozialdemokraten geschlagen. Das ist natürlich eine schiefe Auf- 
fassung. Wenn die Regierung Neuwahlen veranlaßt, so gilt es nicht eine Strafexpedition 
gegen eine einzelne Partei, sondern sie will eine Anderung der Mehrheitsverhältnisse 
überhaupt erreichen. Die Kartellwahlen des Jahres 1887 verliefen nicht anders als die 
Blockwahlen zwanzig Zahre später. Aus beiden Wahlen ging das Zentrum ungeschwächt 
hervor. Beide aber erfüllten ihren Zweck durch die Zertrümmerung der anderen, dem 
Zentrum zurzeit verbündeten Oppositionspartei, damals der Freisinnigen, später der 
Sozialdemokratie. Der Kampf galt der oppositionellen Mehrheit als solcher. Dieser 
primären Aufgabe gegenüber war die Frage sekundär, durch Schwächung welcher der 
Oppositionsparteien die Dezimierung der Majorität erreicht wurde. Bei den Block- 
wahlen war mir die Schwächung der Sozialdemokratie erwünschter als ein entsprechender 
Mandatsverlust des Zentrums. Ich habe damals, und zwar aus eigener Initiative, 
für die Stichwahlen die Parole für das Zentrum gegen die Sozialdemokratie ausgegeben. 
Auf meine direkte Einwirkung hat der frühere Bürgermeister von Köln, Exzellenz Becker 
74
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.