Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Maschinen-Industrie. 105 
  
in lleine Städte könnte die Großstädte entlasten. Dort ist die Gelegenheit zur körper- 
lichen Erholung leichter zu schaffen. Aber wir müssen verhüten, daß der Landwirtschaft 
durch diese Dezentralisierung noch mehr Arbeiter entzogen und das Eindringen und Fest- 
setzen von Landarbeitern nichtdeutscher Abstammung weiter wie bisher gefördert wird. 
Hier muß, und zwar bald, großzügige Arbeit geleistet werden, die einesteils die Land- 
arbeiter am Orte hält, andernteils ihnen die Möglichkeit bietet, in der stillen Zeit durch 
industrielle Betätigung ihr Einkommen zu erhöhen. Man muß nicht nur blindlings 
dezentralisieren, sondern man muß gruppieren, d. h. man muß solche Industrien auf 
das Land verlegen, welche kein großes Anlagekapital und keine Großbetriebe erfordern, 
so daß eine zeitweise Stillegung während der landwirtschaftlichen Haupt-Arbeitsperioden 
keinen großen Zinsverlust bringt; ferner sollen diese Industrien möglichst die landwirt- 
schaftlichen Erzeugnisse am Orte verarbeiten oder die Befriedigung der Bedürfnisse der 
Landwirtschaft vorbereiten. Eine Menge in den Großstädten nicht unmittelbar ver- 
brauchbarer Lasten geht mit den Lebensomitteln in die Städte, um von dort wieder 
ins Land zurückzugehen. Die Maschinen-Industrie, richtig genutzt, gibt hier eine Reihe 
vorzüglicher Hilfsmittel zur Abbilfe und Gesundung in Form billiger und in jedem 
Hause aufstellbarer Maschinen, die Überlandführung elektrischer Energie gibt jedem Orte 
und jedem Bauernhause die zum Betriebe der Maschinen nötige Kraft. Im Gemeinde- 
werkhause würden die Klein-Industrien untergebracht, welche eine gewisse A#rbeits- 
teilung erfordern, dort würden die Geräte der Landwirtschaft im Winter instand ge- 
setzt, die Zugend im Gebrauch derselben unterrichtet, die Kleidung der Dorfbewohner 
halbindustriemäßig hergestellt, Hausgeräte gefertigt und Heimatkunst geübt. Den ein- 
zelnen Werkstätten müßten Gemeindewerkmeister vorstehen, der Gemeinde-Zngenieur 
und der Heimatkunstlehrer das Ganze leiten. 
Die Zahl der Genossenschaftsmolkereien mit Kühlmaschinenbetrieb, Buttererzeugung 
und Käserei ist allenthalben im Wachsen begriffen. Warum soll nicht auch die Fleisch- 
versorgung der Städte in gleiche Bahnen gelenkt werden können? In jedem Kreise 
können ein oder mehrere Vieh- und Schlachthöfe errichtet werden, von wo den Großstädten 
das Fleisch in maschinell gekühlten Eisenbahnzügen zugeführt wird. Die Abfallstoffe, 
Leder, Bein, Horn usw., werden auf dem Lande belassen und zum Teil in Gemeinde- 
werkhäusern oder in der Hausindustrie weiterbearbeitet, statt am lebenden Bieh erst in 
die Städte zu wandern und von dort wieder an die Industrien verteilt zu werden. 
Die ungeheuren Bieh- und Schlachthöfe der Großstädte verschwinden mit allen ihren 
häßlichen Nebenerscheinungen, der Viehhandel wird in gesunde Bahnen geleitet, der 
qualvolle, verlustreiche und teure Transport des Schlachtviehes in die Städte, die teure 
Wiederauffütterung desselben in der Stadt verschwindet, die Verbreitung der Seuchen 
in den Viehhöfen wird eingeschränkt. Die Landbevölkerung findet industrielle Betätigung 
zu Hause und wird sich damit um so lieber befassen, als es doch die Erzeugnisse der 
Landwirtschaft sind, die sie weiterverarbeitet. 
Die Gruppierung der hierzu geeigneten Industrien um die Landwirtschaft wird 
aber nur durch großzügige Arbeit und eingehendes Studium zu erreichen sein, die Re- 
gierung, die Maschinen-Zndustrie, die großen landwirtschaftlichen Verbände werden zu- 
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