Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik. 11 
  
des Wirtschafts- und Soziallebens eingetreten, und dies trotz des Ausbaus der Arbeiter- 
versicherungs- und Arbeiterschutzgesetzgebung und der Zulassung der Gewerkoereins- 
organisation der Arbeiter, die teilweise mit als bemmende Momente gegenüber jenen 
Freiheiten einwirken. 
Privatkapitalistische Fragen. Solche Erscheinungen sind namentlich die Ent- 
wickelung des Kartellwesens und der industriellen 
undmerkantilen Soyndikate, der Spekulation zur Ausbeutung von Konjunkturen, des spekula- 
tiven Bank- und Börsenwesens, des Börsenspiels in allen Kreisen der Bevölkerung. Derkhoch- 
privatkapitalistische Charakter der deutschen Volkswirtschaft, die Entstehung von großen, ja 
riesigen Einzel-Einkommen und Vermögen, die gedrückte Lage des Mittelstands trotz der 
gleichzeitigen unzweifelhaften Hebung des namentlich industriellen und montanistischen 
Arbeiterstands, die größeren wirtschaftlichen und sozialen und teilweise auch politischen 
Gegensätze und Unterschiede von Ober-, Mittel- und Arbeiterklasse, von beweglichem 
Kapital und Grundbesitz, von Stadt, besonders Großstadt und Land, sind aus diesen 
Verhältnissen mit hervorgegangen. Plutokratie gerade der Oberklasse, maßloser Luxus 
und Genußsucht, hier wie von da aus schon durch Beispiel nachwirkend in den anderen 
Klassen, wirtschaftliche Ubermacht und beherrschende Gewalt, auch Ubermut in vielen 
Kreisen und vollends an den Spitzen der modernen Geld-, Bank-, Börsen-, Handels-, 
Industriekreise, sind ohne hinlänglich retardierende Gewichte fast stärker als sonst in ganz 
Europa, selbst als in England, Frankreich, Belgien zu einer hypertrophischen Entfaltung 
gekommen, ähnlich, wenn auch noch schwächer, wie in Nordamerika. An wirksamen Ver- 
suchen, solche retardierende Gewichte anzubringen, ist aber teils noch nicht viel gelungen, 
teils sind solche von vornherein unterblieben. So ist namentlich die Kartellbildung mit 
ihren Folgen der Entstehung faktischer Monopole des Einzel- und des assoziierten Groß- 
kapitals, mit ihrer privaten Besteuerung der Konsumenten in hohen Preisen, mit ihrem 
Druck auf die Arbeiterklasse in deren Löhnen und Arbeitszeiten, mit ihrer Bedrückung des 
gewerblichen Mittelstands, mit ihren für Besitzer, auch Aktionäre oder Beteiligte an an- 
deren Erwerbsgesellschaften abfallenden überhohen Gewinnen uneingeschränkt geblieben. 
EGleiches gilt von der Börse, die mit ihrem vielfachen bloßen Spielgeschäft trotz der Börsen- 
gesetzgebung sich zu sehr selbst überlassen blieb. Dieser Ausspruch bleibt bestehen, auch wenn 
man anerkennt, daß durch manche Einzelgesetze, so zur Modifikation und Beschränkung der 
Gewerbefreiheit, die innere Handels- und Gewerbeverfassung und die wirtschaftsfreiheitliche 
Produktion und der Verkehr immerhin eine Beeinflussung erfahren haben. So besonders 
durch die neue Handwerksordnung, durch die Rückkehr zu einem umfassenderen, leistungs- 
fähigeren und wirksameren Innungswesen, sogar wieder bis zu Zwangsinnungen, durch 
Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, durch Gesetze wie über Fleischbeschau u. a. m. 
Auch der große Ausbau des Genossenschaftswesens, besonders im Kredit- und Bankwesen, 
zum Teil auf der Grundlage eines neuen Rechtes, der beschränkten Haftbarkeit neben der 
unbeschränkten. Er ist an sich auch eine der erfreulichsten Erscheinungen unseres Wirtschafts- 
und Soziallebens und zugleich eine besonders mitwirkende Hemmung der Entfaltung des 
bloßen Bank- und Börsenwesens und des Privatkapitalismus, des Einzelkapitals und des 
  
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