Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

Die chemische Industrie 
Von Professor Dr. Gustav Schuls in München 
Eine richtige Einschätzung der außerordentlichen Höhe, zu welcher die deutsche che- 
mische Industrie heutzutage, vor allem durch die Entwickelung in dem letzten Biertel- 
jahrhundert, emporgestiegen ist, ergibt sich erst, wenn man sich die vorhergehende Zeit 
vor Augen hält. Es genügen hier zum Vergleich einige kurze Ausführungen. 
Geschichtlicher Rückblic. Wenn wir unsere moderne Kultur, Wissenschaft und 
Technik vielfach auf die klassischen BVölker des Altertums 
und durch deren Vermittelung auf die uralten Kulturreiche am Ail und Euphrat zu- 
rückführen können, so ist dieses für die che mische Industrie nur in sehr beschränktem 
Maße möglich. 
Freilich finden sich Anfänge einer solchen bereits bei jenen ältesten Völkern, 
wofür schriftliche und inschriftliche Nachrichten und bildliche Darstellungen sowie zahl- 
reiche Reste in unsern Museen und antiken Bauwerken Zeugnis geben. 
Bieles kannten und konnten sie schon längst in staunenswerter Vollendung, z. B. 
Glasbläserei und Mörtelbereitung, und manches von ihnen angewandte technische Ver- 
fahren ist uns heute noch nicht klar, wie die Herstellung der römischen Terrasigilata- 
gefäße, des Farbenschmelzes der griechischen BVasen und der mächtigen Eisenbarren, 
wie sie sich z. B. in dem Museum der Saalburg finden. 
Aber von diesen alten, auf chemischer Grundlage beruhenden Gewerben hat sich 
nichts Nennenswertes zu uns herüber gerettet. Es mußte alles neu erfunden wer- 
den; das war schwierig genug, da ganz abgesehen von den Unruhen der Bölkerwande- 
rungen und Kriege, welche eine spstematische Pflege und Ausbildung der einst gewon- 
nenen Fertigkeiten und Erkenntnisse unmöglich machten, in äußerlich ruhigeren Zeiten 
geistige Strömungen die Naturwissenschaften und damit auch die Industrie nicht auf- 
kommen ließen und öfters geradezu unterdrückten. 
Erst nach vielen vergeblichen Mühen fiel den nach Naturerkenntnis Ringenden 
allmählich die scholastische und metaphosische Binde von den Augen, welche die richtige 
Beobachtung und Erklärung der oft einfachsten Naturvorgänge verhindert hatte. 
So kam es, daß bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Ge- 
werbetätigkeit auf chemischem Gebiete nur eine minimale war und sich kaum über einige 
in der Glasmacherei, Färberei und Medizin gebrauchte Salze, wie Vitriole und Alaune, 
welche aus den Hüttenbetrieben stammten, Glaubersalz, einige Säuren wie Nordhäuser 
  
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