Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
148 Cextilindustrie. VI. Buch. 
  
Die neue Blüte der deutschen Texktilindustrie hat, nachdem die Folgen des 
französischen Krieges überwunden waren, begonnen, umfaßt also ungefähr die letzten 
25 Jahre. In dieser Zeit ist nicht nur die Menge der Fabrikate beträchtlich gewachsen, 
sondern auch die Güte der Erzeugnisse verbessert worden. Ferner ist der Bau der 
Textilmaschinen so vervollkommnet worden, daß es heutzutage kaum noch notwendig ist, 
für irgendeinen Spezialzweig Maschinen aus dem Auslande zu beziehen. Die Fabrikate 
der Farbenindustrie haben sogar einen so bedeutenden Ruf erlangt, daß sie die ganze 
Welt beherrschen, denn sie decken ½ des Weltbedarfs. 
Die Steigerung der Produktion innerhalb der letzten 25 Jahre ließe sich 
zahlenmäßig genau nur angeben, wenn eine vergleichende Statistik über die her- 
gestellten Erzeugnisse und ihren Wert zum Beginn der Blüteperiode und zur Zetztzeit 
vorläge. Da nur Angaben über die heutigen Zustände und auch diese nur lückenhaft vor- 
handen sind, muß man sich mit Schlußfolgerungen aus den Gewerbezählungen von 
1882 und 1907 begnügen. Nach diesen betrug im Jahre 1882 die Zahl der Betriebe 
406 574 und die der darin beschäftigten Personen 910 089, während im Jahre 1907 
die Zahl der Betriebe 161 218 und die der darin beschäftigten Personen 1 088 280 aus- 
machte. Diese Zahlen lehren, daß sich die Zahl der Betriebe verringert und die Zahl 
der beschäftigten Personen vermehrt hat, d. h. es sind viele kleinere Betriebe verschwunden 
und größere an ihre Stelle getreten. Die Zahl der beschäftigten Personen ist um nahezu 
20%, also um ⅛ gewachsen. Die mit ihnen erreichte Produktion muß aber um einen 
bedeutend höheren Betrag gestiegen sein, denn in den 80er Jahren gab es noch viele 
Hand- und Einzelbetriebe. Sie sind allmählich durch die mechanischen Großbetriebe 
verdrängt worden. Einen annähernden Maßstab wird man gewinnen, wenn man die 
Zahl der für die Betriebe erforderlichen Pferdekräfte zum Vergleich heranzieht, denn 
die hier zu verzeichnende Zunahme wird der Zunahme der Arbeitsmaschinen ent- 
sprechen. Leider stehen diese Zahlen nur für die Zählungen von 1895 und 1907, nicht 
aber von 1882 zur Verfügung. Im Jahre 1895 betrugen die Pferdekräfte 518 176 und 
im Jahre 1907 880 400, wozu noch 77 843 Kilowatt an elektrischer Kraft kommen. Rechnet 
man die Pferdekraft zu 736 Watt, so beträgt die Zahl der Pferdekräfte im Zahre 1907 
etwa 986 000. Hiernach würde sich der Betrieb in der Zeit von 1895—1907 nahezu ver- 
doppelt haben. In Wirklichkeit wird aber die Steigerung noch größer sein. Die 
Arbeitsmaschinen sind innerhalb der 25 Jahre sehr verbessert worden, ihre Leistung be- 
trägt also bei gleichem Kraftbedarf mehr wie früher. Der Fortschritt gegenüber 1882 
ist natürlich entsprechend größer. 
Daß dieser Erfolg erreicht worden ist, verdankt Deutschland allein der rastlosen 
Tätigkeit und Tüchtigkeit der Fabrikanten und Kaufleute und der Maschinen- 
bauer und Chemiker, denn es arbeitet seinen beiden Hauptkonkurrenten auf dem Welt- 
markt gegenüber unter ungünstigen Umständen. Die Textilindustrie in England ist loka- 
lisiert und zu den Gewinnungsorten des Eisens und der Kohle sowie zu den Hafenplätzen 
für die Einfuhr des Rohmaterials und die Ausfuhr der fertigen Waren günstig gelegen, 
während sie in Deutschland ziemlich zersplittert ist und Rohmaterialien und fertige 
Waren weite Landwege zurücklegen müssen, bevor sie zu den Fabriken oder zu den Aus- 
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