200 ODie Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. VI. Buch.
mit dem Fabrikwesen zugleich der Verfall eines Volkes beginne. Der Genfer Sismonde
de Sismondi gab, als er England bereist und studiert hatte, dieser Besorgnis am beredtsten
Ausdruck. „In diesem überraschenden Lande, das eine große Erfahrung zur Belehrung
der übrigen Welt in sich zu bergen scheint, habe ich die Produktion zunehmen und die
Genüsse abnehmen sehen. Die Masse der Bevölkerung scheint dort ebenso wie die Philo-
sophen zu vergessen, daß das Anwachsen der Reichtümer nicht der Zweck der politischen
Okonomie ist, sondern das Mittel, dessen sie sich bedient, um das Glück aller zu fördern.
Sch habe dieses Glück in allen Klassen gesucht, aber nirgends finden können.“1) Oiese
ersten Tage der Industrie, in denen das Hinauswachsen über die alte, fast lediglich auf
Landwirtschaft und Handwerk ruhende Gesellschaftsordnung anfangs eine Fülle von
Keibungen schuf, liegen nun auch in Deutschland längst hinter uns. Die düsteren Voraus-
sagen sind nicht eingetroffen. Die Mängel und Gebrechen der Industrie haben sich zu-
meist als Nachteile einer Ubergangezeit herausgestellt. Auch die anderen Erwerbs-
zweige, besonders die Landwirtschaft, sind keineswegs vernichtet, sondern im großen
und ganzen eher von der Industrie gefördert worden.
Sucht man tiefer die Zusammenhänge zwischen Industrie und Kultur zu erfassen,
so wird man sein Urteil von der Antwort auf eine Vorfrage abhängig machen mühssen.
Den positiven Einfluß der industriellen Entwicklung auf die gesamte Kultur des deutschen
Volkes wird nämlich nur der anerkennen, der in einer kopfreichen, wachsenden, arbeit-
samen Bevölkerung ein GElück sieht, und der zugleich im Wohlstande, der allen Klassen
zugute kommt, die Voraussetzung für jede Volkskultur erblickt. Denn das ist letzten Endes
das Ergebnis des gewerblichen Aufschwungs: er schafft Möglichkeiten für die
Bevölkerungszunahme und -erdichtung, zugleich gibt er größeren und
allgemeineren Wohlstand. Beides hat in den letzten 25 Zahren Deutschland in einem
vorher unbekannten Maße erfahren. Waren aber Bevölkerungswachstum und Kapital-
vermehrung die Folgen des großgewerblichen Aufschwunges, so wurden diese beiden
Faktoren wieder die wichtigsten Elemente für eine weitere Steigerung der industriellen
Produktivität. Diese wechselseitige Verketttung von Ursache und Wirkung bildet den Grund-
zug der jüngsten Epoche. Die Industrie steigert die Ergiebigkeit der Arbeit
in viel höherem Grade, als es bei anderen Erwerbszweigen und Unter-
nehmungsformen der Fall ist. Has ist die letzte Formel für ihre kulturfördernde
Wirkung. Das ganze Leben vollzieht sich unter ihrem Einflusse in einem beschleunigten
Tempo. Sie ist bis zu einem gewissen Grade vom Boden, der seine Gaben kärglich
bemißt, unanbhängig. Die Technik, die Kraft und Stoff immer besser und intensiver
ausnutzt, bewältigt größere Mengen in immer kürzerer Zeit. Die Produkte der Induftrie
werden beständig zahlreicher, vielgestaltiger und bereichern den Konsum bei gleichzeitiger
Verbilligung. Neuer Bedarf wird dadurch geweckt, die Nachfrage steigt. Der Güter-
umsatz, besonders auch der Umschlag des Geldkapitals beschleunigt und verbreitert sich.
Die Vermehrung und die Verfeinerung des Bedarfs stellt aber die Industrie vor stets
neue Aufgaben, bringt ihr eine Steigerung der Arbeitsaufträge, nötigt sie zur Vergröße-
rung der Betriebsanlagen, Verbesserung des maschinellen Apparates und Ausgestaltung
1) Sitiert nach Herkner, Oie Arbeiterfrage.
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