Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
202 Die Gesamtentwicklung der deurschen Industrie. VI. Buch. 
  
liche Fundament. Nicht minder wichtig war die Verkehrserweiterung: große und leicht 
zugängliche Märkte sind die unerläßliche Voraussetzung der Industrie. Wo sich nicht die 
enge Schranke des rein lokalen Absatzgebietes zugunsten des Fernhandels durchbrechen 
ließ, vermochte sie, die auf Massenproduktion beruht, sich nicht zu entfalten; dort war 
das Handwerk mit seinem engen Kundenkreise die typische gewerbliche Unternehmungs- 
form. Die hohe Bedeutung des Zollvereins für die Entstehung der deutschen Industrie 
ist anerkannt. Eine neue Flut technischer Fortschritte von der Verbesserung der Wasser- 
räder bis zu der so folgenreichen Ausnutzung der Dampfkraft, den mechanischen Spinn- 
und Webstühlen und manche andere Erfindung kamen weiter in Betracht. Unter der 
Herrschaft des Grundsatzes vom freien Wettbewerb, der nun als regelnde Kraft in den 
Mittelpunkt des Wirtschaftslebens gestellt wurde, vermochte sich auch der Unternehmungs- 
geist erfolgreich zu betätigen. Indessen blieb es bis 1850 mehr bei Ansätzen der 
industriellen Entwicklung. Erst von diesem Zeitpunkte an setzte der Aufschwung ein. Die 
50er Zahre waren in Deutschland die erste Gründerzeit großen Stils. Die neue Form 
der Aktiengesellschaft, die Entstehung von Banken zu dem vorwiegenden Zwecke, gewerb- 
liche Großunternehmungen zu finanzieren, der Bau eines Eisenbahnnetzes mit privaten 
Mitteln, vor allem aber der Geist wagemutiger, bisweilen abenteuerlicher Spekulation 
kennzeichnen diesen Zeitabschnitt. Die 60er Zahre brachten größere Ruhe, setzten aber 
in der Hauptsache die Industrialisierung Deutschlands fort, nachdem das Zahr 1857 
eine schwere Krisis gesehen hatte. Neben der Verherrlichung des freien Wettbewerbs, 
der NRaum für kräftige Initiative läßt, mehrten sich aber die Stimmen, welche das „kapi- 
talistische“ System als anarchisch bezeichneten, als ein Raubsystem an Menschen und 
Sütern. In der Tat fehlte es nicht an Uberspekulation und Uberproduktion, an den 
heftigsten Preisschwankungen. Nach dem siegreichen Kriege 1870/71 und der Reichs- 
gründung kam es zur zweiten großen Gründerperiode 1871 bis 1873. In welchem Grade 
in diesen Jahren des künstlich verstärkten Aufschwungs auch betrügerische und schwindel- 
hafte Unternehmungen entstanden, ist bekannt. Die schwere und plötzliche Krisis von 
1875 war die Folge. Nur langsam erholte sich das Geschäftsleben. Bis 1887 suchte man 
in oft recht mühseliger Kleinarbeit, durch Ausbau des Betriebs und der Handelsbeziehun-- 
gen voranzukommen. Große Industrien, wie der Kohlenbergbau und das Eisenhütten- 
wesen, litten jedoch Not. In den ersten Jahren der Regierung Wilhelms ll. bereitete 
sich allmählich eine neue Blüte vor. Die Konjunktur wies geringere Schwankungen auf. 
Eine Aufschwungsperiode brachten dann die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts von 
1895 ab. Die aufblühende, junge Elektrizitätsindustrie schuf vor allem neue Entwicklungs- 
möglichkeiten. Der Zahrhundertbeginn sah eine glänzende Hochkonjunktur. Zn ihr 
fehlte es nicht an Ubertreibungen in der Preispolitik und der Ausnutzung der damals 
im allgemeinen noch sehr jungen Kartellmacht. 1901 begann eine ODepression, aus der 
sich aber die jetzt so viel besser organisierte Industrie zu einem allmählichen und allen 
Ubertreibungen abholden Aufstiege rettete, der erst im Herbste 1907 durch die einsetzende 
Geldknappheit, die gerade aus den hohen Ansprüchen herrührte, die die Industrie an 
den Kapitalmarkt stellte, gehemmt wurde. Die Gesundheit ihrer Lage zeigte sich aber 
darin, daß es nicht zu einer industriellen Krisis kam. Flaute auch die Hochkonjunktur 
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