VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 203
ab, so erholte sich das Geschäftsleben von 1908 ab im allgemeinen völlig; einige Zn-
dustrien — besonders die Montangewerbe — gelangten schließlich bis 1912 zu ungeahnten
„Rekord“-Produktionsziffern; die Ausfuhr wies ungeheure Summen auf. Die kriegeri-
schen Ereignisse von 1912/13 freilich wirkten hemmend auf die Konjunktur. Jedoch erweisen
sich zunächst alle pessimistischen Prophezeiungen einer Krisis als übertrieben und falsch.
In der Hauptsache stellen sich also die letzten 25 Zahre deutscher Industriegeschichte
als eine beständig anschwellende Aufschwungsperiode dar, bei der der Fortschritt eine
nur vorübergehend und nur wenig abgeschwächte Stetigkeit aufweist. England erlebte
in dem gleichen Zeitraume mehrere starke Depressionen. Mehr noch mußten die Ver-
einigten Staaten, die ja gleich Deutschland im letzten Vierteljahrhundert einen gewal-
tigen Ausschwung der Industrie erlebten, Krisen von verheerender Stärke wie die
von 1893 und 1907 durchmachen. Die Zahl der Konkurse, der die Zahlungen einstellen-
den Banken, der Kursverlust an den Börsen, der Preisfall, das Sinken der Löhne nahm
in der Union große Dimensionen an. Der stark gebrochenen Ausschwungskurve Amerikas
gegenüber zeigt die Industriekonjunktur Deutschlands einen viel ruhigeren und gleich-
mäßigeren Verlauf.
Dabei ist weiter lehrreich, diese langandauernde Hausse der letzten 25 Zahre mit
den beiden vorausgehenden Aufschwungsperioden der 50er und der 70er Jahre zu
vergleichen: Das erstaunliche Emporschnellen der deutschen Industrie aus zünftlerischer
Enge und lokaler Gebundenheit um die Mitte des vorigen Zahrhunderts wäre nicht
möglich gewesen, wenn nicht eine ganze Reihe fördernde Faktoren gleichzeitig bestanden
hätte: Fortschritte der Maschinentechnik, der Steinkohlengewinnung, der Eisenverarbei-
tung, der Sieg des Individualismus und der Gewerbefreiheit, vor allem aber die Ent-
faltung des Verkehrs der Eisenbahnen und der Dampfschiffahrt, dazu der politische
Friede haben vor allem dabei mitgewirkt. Aber England und auch Frankreich waren
Deutschland weit überlegene Industriestaaten; auf dem Weltmarkte erfolgreich mit ihnen
zu konkurrieren, erschien als ein unerfüllbarer Traum. Seit der Krisis von 1857 erfolgte
auf die Spekulationshoffnungen eine beträchtliche Ernüchterung. Trotz der meist klugen
Wirtschaftspolitik des Zollvereins war die Uneinheitlichkeit Deutschlande noch immer
ein Hemmnis. Draußen auf dem Weltmarkte hatte der deutsche Name kein Ansehen.
Zwar gelang es dem Kaufmann Geschäftsbeziehungen anzuknüpfen; sein zähes und wer-
bendes Anpassungsvermögen verschaffte ihm Kundschaft. Oft aber waren es in der Tat
damals nur die Eigenschaften „billig und schlecht“, die den Waren Eingang verschafften.
Die Einigung des Reiches erst schuf neue Möglichkeiten. Die 5 Milliarden Franken
Kriegsentschädigung erleichterten den ersten Aufstieg. Aber die Ubertreibungen der
Eründerjahre führten nach der Krisis von 1873 zu einer lang anhaltenden Mutlosigkeit.
Es ist sehr bemerkenswert, daß der Aufschwung nach dem glücklichen Kriege nur so kurze
Zeit anhielt. Es fehlte die Disziplin des geregelten Marktverkehrs. Im allgemeinen
Fieber der Habgier wollte jeder erraffen und erbeuten, mochte kommen, was kommen
mag. Aber die Krisis von 1873 ist bisher die letzte große Krisis gewesen. Zunächst dauerte
es allerdings fast 10 Jahre, bis eine neue Aufwärtsbewegung einsetzte. Inzwischen
war dann das Freihandelsspstem durch mäßige Schutzzölle abgelöst worden und konnte
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