Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
204 Die Gesamtentwiclung der deutschen Industrie. VI. Buch. 
  
man sich einer steigenden Aufnahmefähigkeit des inneren Marktes freuen. Freilich 
schon 1882 war die Produktionszunahme dem Bedarf wieder so weit vorausgeeilt, daß 
abermals eine Berschlechterung eintrat. Noch fehlten die Absatzmöglichkeiten auf dem 
Weltmarkte in ausreichender Fülle. 
Ums ZJahr 1888 trat eine Wendung ein. Kurz vorher war der Zollschutz vermehrt 
worden. Zetzt begann der Ausbau der Kriegsflotte, die Erwerbung von Kolonien, die 
Politik des Friedens. Die neue Aufschwungsperiode setzte ein, ohne gleich wieder zu 
verfallen. Daß immerhin noch 7 LJahre verstrichen, bis eine wirkliche Hausse begann, 
war nicht zum geringsten die Folge gerade des Umstandes, daß in dieser 
Zeit die weltwirtschaftlichen Verbindungen der deutschen Industrie enger 
wurden. Oenn das ist ein anderes Hauptmerkmal der letzten 25 Zahre, daß in dieser Zeit 
die Beziehungen zum Auslande so eng und notwendig wurden, daß Veränderungen 
auf dem Weltmarkte einen beträchtlichen Einfluß auf die deutsche Industrie ausübten. 
So hat vor allem die amerikanische Krisis von 1893 auch den deutschen Aufschwung 
gehemmt. Dann aber kam es zu den Handelsverträgen der Caprivizeit, die Goldproduk- 
tion wies eine starke Zunahme auf, der englische und der amerikanische Markt wurden 
immer aufnahmefähiger für deutsche Erzeugnisse, Frankreichs wirtschaftliche Energie 
verminderte sich, die wissenschaftliche Technik machte bedeutende Fortschritte, besonders 
die Elektrotechnik und die Chemie, den Übertreibungen des freien Wettbewerbs suchten 
die ersten, starken Kartelle, z. B. das 1893 gegründete rheinisch-westfälische Koblen- 
syndikat, zu begegnen, 1895 ging das Roheisensyndikat desselben Bezirks aus einer losen 
Vereinigung hervor: wieder vereinigte sich also eine Fülle glückverheißende Faktoren, 
um einen neuen Aufschwung herbeizuführen. Wenn es 5 Jahre später mitten in einer 
stolzen Hochkonjunktur auch, wie gesagt, nicht an Ubertreibungen fehlte, besonders Be- 
triebsvergrößerungen vorgenommen wurden, die hier und da den Bedarfsmöglichkeiten 
vorauseilten, auch die Preispolitik der erstarkenden Rohstoffindustrien, die jetzt endlich 
nach langem Daniederliegen glänzende Geschäfte machten, nicht frei von skrupelloser 
Ausnutzung der jungen Macht gegenüber den Abnehmern war, schließlich auch die Kredit- 
ansprüche über ein gesundes Maß hinausgingen — so erreichten doch diese Ausartungen 
der Hochkonjunktur bei weitem nicht die unüberlegten und unsoliden Praktiken der 50er 
und 70er Jahre. Im Winter 1900/1901 mußten einige Hypotheken- und Effektenbanken, 
sowie einige Industriefirmen ihre Zahlungen einstellen; die Dividenden vieler Aktien- 
gesellschaften und die Börsenkurse sanken beträchtlich. Auch hierbei wirkten die inter- 
nationalen Beziehungen — besonders zu Amerika — ungünstig mit; aber die Wieder- 
belebung des Marktes, die im Auslande, zumal in der Union, recht bald eintrat, half 
auch von 19035 ab der deutschen Industrie zu einem erneuten Aufschwung. Von einer 
tiefergehenden Krisis konnte man auch 1901/1902 kaum reden. Eine lähmende Mut- 
losigkeit wie nach 1873 hatte nicht Platz gegriffen. Mit großer Frische und Hoffnungs- 
freudigkeit ging man gleich wieder ans Werk, und die Entwicklung der letzten 10 Jahre 
gab diesem Optimismus recht. Es war die Zeit, wo die Bevölkerung Deutschlands um 
800 000 bis 900000 Köpfe jährlich wuchs, also ebensoviel Hände mehr Alrbeit suchten, 
aber auch ernährt und erhalten sein wollten. 
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