206 Oie Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. A.VI. Buch.
in der deutschen Industrie, wie es in ähnlichem Grade vorher nicht be-
standen hat. Vieles, was früher zerstreut war, ist jetzt zentralisiert und einheitlich
geleitet. Die Wechselbeziehungen von Firma zu Firma, Ort zu Ort, Bezirk zu Bezirk,
zwischen Privaten und Behörden, zwischen Fabrikanten und Exporteuren, zwischen
Lieferanten und Abnehmern sind viel enger, geordneter und stetiger als früher. Auch
verausgabt man nicht mehr so sehr die ganze Kraft im günstigen Augenblicke und ist viel
besser über die Konkurrenz und den Bedarf unterrichtet — kurz, das Gerüst der In-
dustrie ist solider und fester geworden. Diese objektive Tatsache findet auf psochi-
schem Gebiete ihren Widerschein in der Steigerung des Vertrauens und der ruhigen
und besonnenen Beurteilung des Wirtschaftslebens. Börsenpaniken sind selten gewor-
den; rapide und vernichtende Kursstürze sind gleichfalls kaum mehr zu verzeichnen ge-
wesen. Freilich sind auch die unerhört hohen Gelegenheitsgewinne der Gründerjahre
nicht oft erreicht worden. Wie in der inneren und äußeren Machtpolitik und wie in der
Sozialpolitik ist das allmähliche und sichere Fortschreiten, die intensive Kleinarbeit,
wenn man will: die Bureaukratisierung das Merkmal der Zeit; die großen Aufregungen,
der plötzliche Umschwung, wenn man will: das Albenteuerliche, aber auch Heroische,
dies alles vermißt man fast ganz in dieser Epoche. Dafür ist in geradezu fieberhafter
Weise gearbeitet worden und hat die Rationalisierung der Betriebe, des Verkehrs und
der volkswirtschaftlichen Organisation große Fortschritte gemacht. Was sich durch Mechani-
sierung, Ersparnis an Arbeitszeit und Arbeitskraft erreichen läßt, wurde ausprobiert
und vervollkommnet. Der Geist der exakten, wissenschaftlichen Technik drang
in alle Poren des Wirtschaftskörpers. Mit dem Ergebnis, daß die Gesamtleistung
der Industrie riesenhaft wuchs. Zm Auslande, besonders in England, ist heute vielfach
die Meinung verbreitet, der Aufschwung der deutschen Industrie sei ein Treibhaus-
produkt, sei künstlich übertrieben und müsse eines schönen Tages infolge seiner unsoliden
Stützen zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Uns will demgegenüber scheinen, daß
fast noch mehr als die zahlenmäßig in der Produktionsmenge zum Ausdruck kommenden
Größen die innere Festigkeit das Merkmal der deutschen Industrie ist.
Natürlich bedürfte bei einer eingehenden und exakteren Untersuchung, als sie hier
auf wenigen Seiten gegeben werden kann, manches positive Urteil seiner Einschränkung;
im einzelnen kann man auch Beweise vom Gegenteil anführen. Aber mißt man die
Vorgänge der letzten 25 Zahre an den Tatsachen der ihnen vorausgehenden Jahrzehnte,
so kann man, scheint es uns, immer nur diese Stetigkeit, Festigkeit und Sicherheit als
Kriterien der Gegenwart hervorheben.
Dabei ist in allgemein volkswirtschaftlicher Hinsicht
in dieser jüngsten Epoche auch noch zweierlei klar
geworden: die große Bedeutung der perfön-
lichen Eigenschaften des Unternehmertums als Produktionsfaktoren und
die unbedingte Überlegenheit der Großunternehmungen über die
mittleren und kleineren.
Es wurde oben erwähnt, daß man in den Anfängen der industriellen Entwicklung
Großunternehmertum und
Großunternehmung.
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