Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. ODie Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 207 
  
besonders von kommunistischer Seite die Zndustrie als anarchisch verschrie, weil das un- 
regulierte Durcheinander des individuellen Wettbewerbs als eine ungeheure Kraft- 
verschwendung erschien. Je mehr seitdem sozialistische Zdee#n in die öffentliche Meinung 
eindrangen, desto häufiger wurde — in mehr oder weniger veränderter Form — diese 
Anklage wiederholt. Der privaten Erwerbswirtschaft gegenüber wird heute noch wie 
damals das Prinzip der Genossenschaft als allein heilbringend gepriesen. Tatsächlich 
ist aber gerade die jüngste Vergangenheit der industriellen Entwicklung 
Deutschlands der deutlichste Beweis, wie falsch diese Ansicht ist. Wie eben 
darzutun versucht wurde, konnte sich der Aufschwung der letzten JZahrzehnte kaum geord- 
neter und ökonomischer vollziehen. Die Erwerbswirtschaft, die man so gern durch das 
unklare Attribut „kapitalistisch" kompromittieren möchte, fand aus sich selbst heraus die 
Korrekturen der übertriebenen Konkurrenz. Die Unternehmerverbände in Kartellen 
und Sondikaten sind dafür die markantesten Beispiele. Zu gleicher Zeit blieb aber 
neben der Organisation das andere Element, das für einen wirtschaft- 
lichen Aufschwung unerläßlich ist, erbalten: die Initiative. Bisher hat sich 
eben noch kein besseres Mittel, den Einzelmenschen in den Dienst des Fortschritts zu 
stellen, gefunden als das, ihm selbst einen möglichst großen Anteil am Ertragsgewinn 
zu gewähren. Daß es der Industrie so gut gelang, disziplinierte Organisation und per- 
sönliche Initiative zu vereinigen und zu versöhnen, ist die Ursache des Aufschwungs ge- 
wesen. Immer wieder die Produktionsmöglichkeiten zu erweitern, neue Bedürfnisse 
zu wecken, dem Bedarfe einer so stark wachsenden und wohlhabender werdenden Be- 
völkerung durch stets reichliches Angebot zuvorzukommen, in der Eroberung des Welt- 
marktes voranzuschreiten trotz Engländern und Amerikanern, wäre niemals einer 
genossenschaftlichen Organisation der deutschen Volkswirtschaft gelungen. 
Sie hat sicherlich im Rahmen der Gesamtheit auch ihre wertvollen Aufgaben, und sie 
hat in der Fülle ihrer Spezialorganisationen verschiedenster Art, die Deutschland besitzt, 
Hervorragendes geleistet; aber sie ist mehr eine Macht der Erhaltung, der Aushilfe, der 
Förderung der breiten Schichten, als eine Form der Eroberung und der Anbahnung 
neuer Möglichkeiten. Nur dadurch, daß früh und spät an jedem Tage Tausende von 
intelligenten Köpfen darüber nachsannen, wie sie sich auf die wirtschaftlichste und zu- 
gleich durchaus anständige Weise neue und größere Gewinne verschaffen, wie sie den 
Bedarf zu sich hinüberziehen und besser als bisher befriedigen könnten, ist der Aufschwung 
des Wirtschaftslebens möglich gewesen. Technische Erfindergabe, praktisches Organi- 
sationsgeschick und auf guter Marktkenntnis beruhende kaufmännische Spekulation 
standen im Oienste dieses Strebens und wurden vom Erwerbstriebe in einem Grade 
angeregt und belebt, wie es genossenschaftlicher Gemeinsinn nicht vollbracht hätte. Man 
nehme ein naheliegendes Beispiel: die Fortschritte in der Industrie der neu entstandenen 
Transportmittel: der Fahrräder, Automobile, Luftfahrzeuge. Wären diese Fortschritte 
so schnell und so sicher vollbracht worden, wenn nicht die Hoffnung, die anderen durch 
überragende Vervollkommnung der Produkte aus dem Felde zu schlagen, die einzelnen 
Firmen immer wieder angespornt hätte? Erkennt man also den Wert der privaten 
Znitiative an, so muß man dabei gleich wieder bewundern, daß sich trotzdem der Fort- 
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