VI. Buch. Oie deutsche Landwirtschaft. 21
politische Weisheit der damaligen Zeit. Wohl wurden viele Tausende — namentlich
lleinerer kapitalsschwacher Landwirte — an den Nand des Verderbens gebracht oder
mußten ihre Scholle preisgeben. Wohl fehlte es der ganz überwiegenden Zahl aller
Landwirte zunächst nicht nur an dem Mut, sondern namentlich auch an dem erforder-
lichen Kapital, um die als notwendig erkannten technischen Verbesserungen durch-
fübren zu können. Aber dennoch ist die Landwirtschaft in ihrer großen Gesamtheit
niemals auch nur einen Augenblick in dem Entschluß wankend geworden, durch eine
verdoppelte Anspannung aller Kräfte — wirtschaftlicher Sparsamkeit, technischer
Vervollkommnung, festen genossenschaftlichen wie berufsständigen Zusammenschlusses und
allerdings auch wirtschaftspolitischen Kampfes — die gewaltigen Schwierigkeiten der
Gegenwart zu überwinden — und sich zugleich für die Zukunft bessere Lebensbedingungen
zu erkämpfen.
Eine wesentliche — vielleicht entscheibende — Unter-
stützung in diesem Verzweiflungskampf um ihr Dasein
und ihre Zukunft hat dann allerdings die deutsche Landwirtschaft in dem günstigen Um-
stande gefunden, daß gerade dem kritischen letzten Jahrzehnt des vorigen Zahrhunderts
eine Reihe sehr bedeutender neuer agrikulturwissenschaftlicher Errungen-
schaften vorangegangen war.
Die Lehren des großen Reformators unserer ganzen Agrikulturwissenschaft, Tustus
von Liebigs, waren allmählich zum Gemeingut nicht nur unserer Lehrstühle, sondern
auch aller gebildetteren Landwirte geworden. Denkende Praktiker hatten — in An-
wendung und Weiterverfolgung der neuerkannten Naturgesetze — ganz neue Be-
wirtschaftungsarten — namentlich der geringwertigsten Böden —, des Sandes und
des Moores — herausgefunden und als praktisch durchführbar erwiesen.
Schulz-Lupitz schuf ein neues System, durch den Anbau sticksstoffsammelnder
Pflanzen unter ausreichender Zugabe von Phosphorsäure und Kali die leichtesten,
stickstoffärmsten Sandböden derart an Pflanzennährstoffen zu bereichern, daß sie zu
den höchsten Erträgen — namentlich von Roggen und Kartoffeln — befähigt wurden.
RKimpau-Cunrau fand umgekehrt ein Syftem, unsere sehr stickstoffreichen Niede-
rungsmoore durch Verbesserung ihrer physikalischen Beschaffenheit (Entwässerung und
Sandbedeckung) bei gleichfalls starker Anreicherung mit Phosphorsäure und Kali in
böchste Kultur zu bringen und ihnen Erträge — nicht nur von Futtergewächsen und
Hackfrüchten, sondern auch an allen Getreidearten abzugewinnen, welche hinter denen
der besten Ackerböden kaum zurückstanden.
Scharf und sorgsam beobachtende Praktiker — wie Beseler, Heine, Paulsen,
Cimbal und später namentlich von Lochow — erkannten, in wie hohem Grade sich die
Ertragsfähigkeit — nicht nur unserer ARutztiere, sondern auch aller unserer Kultur-
pflanzen durch eine zweckmäßige Zuchtwahl steigern lasse.
Neue Getreide- und namentlich Kartoffel züchtungen lieferten bei zweckmäßiger
Auswahl nach Boden und Klima oft die doppelten Erträge wie früher die alten Sorten.
Die ganze Art der Ackerbestellung hatte auf Grund besserer Erforschung der
Neue Errungenschaften.
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