Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
210 Oie Gesamtentwicklung der deutschen Zndustrie. VI. Buch. 
  
Ausgleich reden kann. Die Unterschiede in den Lebensbedingungen und der Organisation 
der Industriegruppen sind freilich auch hierin recht bedeutend. Im ganzen aber ist 
bieses Hineinwachsen der deutschen Industrie in den weltwirtschaft lich en 
Verband eines der wichtigsten Nerkmale der jüngsten Entwicklung. 
Industrie und Handwerk. Oben wurde gesagt, daß die übrigen Erwerbszweige 
durch die Industrie keineswegs vernichtet worden 
seien. Hier interessiert uns besonders das Handwerk. Wenn die Großindustrie so stark 
vordrang, wie kommt es, daß man von einer Erdrückung des Handwerks, auf dessen 
Kosten sich doch diese Entwicklung vollziehen mußte, nicht reden kann? Dabei muß man 
sich einer allgemeinen soziologischen Wahrheit erinnern, daß nämlich fast nirgends in 
der Welt das siegende Neue das Alte völlig abzulösen und zu beseitigen pflegt. Wurde 
ein Teil des Handwerks (wie ich es in „Wirtschaft und NRecht der Gegenwart“ etwas aus- 
führlicher zu zeigen versucht habe) durch die technisch und wirtschaftlich vollkommenere 
Produktion der Industrie in der Tat beseitigt, so schuf diese doch auch wieder viele neue 
Hilfszweige, die grade im Zusammenhange mit der Industrie bestehen. Dazu kommt, 
daß der Geist der Industrie, d. h. ihr streng rationelles, dem ökonomischen Prinzipe 
entsprechendes Wesen, immer mehr auch in die entwicklungsfähigeren Zweige des Hand- 
werks einzog, daß das alte Handwerk selbst also teilweise — wenn auch langsam — indu- 
strialisiert wurde. Man könnte gradezu sagen, bestimmte traditionelle Handwerke 
wie Fleischerei, Uhrmacherei, Installation, Schlosserei usw. sind (besonders dann, wenn 
sie ihrer Betriebsgröße nach in die Kategorie der Mittel- und Großbetriebe einrücken) 
vom alten Handwerksgeist, der von dem ruhelosen Streben nach unablässigem Fort- 
schritt in Technik und Erwerb noch nichts wußte, teilweise heute fast ebenso entfernt 
wie die typische Fabrik. Es ist eine der Wirkungen des Sostems der Industrie, 
daß es auch das Handwerk bis zu einem gewissen Grade umformt und sich 
annähert. Will man die Eigenart der Industrie und das Geheimnis ihrer Erfolge auf 
wenige (schlagwortartig zugespitzte und deshalb nicht ohne Einschränkung richtige) For- 
meln bringen, so könnte man es vielleicht in einigen Thesen fassen, deren praktische Be- 
folgung in den letzten 25 Zahren sich mehr und mehr verwirklicht hat: 1. Durch Ver- 
größerung der Anlagekapitalien zur Verminderung der Produktions- 
kosten zu gelangen. 2. Durch Zusammenschluß unter gleichzeitiger Speziali- 
sation (Ubernahme von Teilfunktionen im Rahmen des Ganzey) sich zu 
ergänzen. 3. Durch Verträge den Wettbewerb zeitweise zu vermindern, 
ohne die Unternehmerinitiative ganz zu unterbinden. 4. Durch Spar- 
samkeit im Betriebe (Abfallverwertung, Werkstättenkonzentration, Auto- 
matisierung und Schablonisierung) billiger zu arbeiten. 5. Durch denkbar 
größte Ausnutzung von Menschen und Sachen ohne Raubbau an ihnen den 
Ertrag zu erhöhen. 6. Durch Ausnutzung jedes technisch-wissenschaftlichen 
Fortschritts die Ergiebigkeit der Produktion zu steigern. 7. Durch engste 
Verbindung mit Kreditinstituten und Handel (teilweise auch durch Aus- 
schluß eines Teiles des Zwischenhandele) die Kapitalbeschaffung und den 
  
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