Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 213 
  
Wilhelms II. eine neue Epoche in den weltpolitischen Beziehungen des Reichs begann, 
sich die politische Perspektive von einer rein europäischen, ja nur kontinentalen zu einer 
die Erde umspannenden weitete, so vollzog sich auch seit den 80 er Fahren der Umschwung 
zu einer modernen Exportpolitik der Zndustrie. Es ist gelegentlich richtig betont worden, 
daß zwar schon vor 100 Jahren Deutschland, genötigt durch seine zentrale Lage, in regen 
Austauschbeziehungen mit anderen Ländern stand. Aber der große Unterschied zwischen 
einst und jetzt liegt in den Warengattungen, die Gegenstand des Tausches waren. Damals 
wurden viele Getreide, Erzeugnisse der Töpferei und der Leinenindustrie exportiert, 
Maschinen und Fabrikate aller Art eingeführt. Der große Umschwung trat nach der ersten 
industriellen Blüte der 50er Jahre mit der Reichsgründung ein. Nach dem Frankfurter 
Frieden ergoß sich ein Warenstrom aus dem Auslande über das an Wohlstand zunehmende 
Reich. Zugleich regte sich die inländische Exportindustrie. Immerhin dauerte es noch 
bis zum Ausgange der 80 r JZahre, ehe eine befriedigende Anpassung an die weltwirt- 
schaftlichen Beziehungen eintrat. Einen guten Gradmesser findet diese Entwicklung 
in den Tatsachen unserer Auswanderungsstatistik. Mit Recht sagte einst Caprivi: „Wir 
müssen entweder Menschen oder Waren ausführen.“1) Noch zeigte sich die Unentwickelt- 
beit der deutschen Industrie, d. h. der Umstand, daß sie der wachsenden Bevölkerung 
noch nicht genügend Beschäftigung gewähren konnte, an der hohen Kopfzahl der Aus- 
wanderer zu Beginn der 80er Jahre. Gerade der Anfang dieses JZahrzehnts brachte 
ungeheure Menge von Vaterlandsmüden, 1881 nicht weniger als 220 902, 1882: 205 583 
Personen, also etwa 5% o der damaligen Bevölkerung. In den nächsten Zahren schwank- 
ten die Zahlen; aber noch 1895 waren es 87 677 Auswanderer oder 1,75% 0 aller Deut- 
schen. Von da an sank die überseeische Auswanderung zu einer minimalen Ziffer herab, 
bis sie im Zahre 1912 mit 18 545 oder 0,28% 0 der Bevölkerung den tiefsten Stand er- 
reichte. Gleichzeitig lockte die industrielle Entfaltung Denutschlands Scharen von Ein- 
wanderern aus dem Osten und Südosten heran, die zumeist in die landwirtschaftlichen 
Arbeitsstellen, die durch den Ubergang deutscher ländlicher Arbeiter in die Industrie 
frei geworden sind, teilweise auch direkt in die Industrie eintraten. Der Rückgang 
der Auswanderung ging nahezu parallel der Zunahme des Warenexports. Ze mehr 
die Zndustrie für den Absatz auf dem Weltmarkte arbeitete, desto mehr Menschen fanden 
in ihr Beschäftigung und Nahrung. 
Oie andeelsbilanz. Wer (wie die Merkantilisten des 17. und 18. Jahrhunderts) 
in der Warenausfuhr das Merkmal des Volkswohlstandes 
erblickt, ist zumächst erstaunt, daß das Deutsche Reich seit Ende der 80 er JZahre eine passive 
Handelsbilanz hat, also der Wert der Einfuhr den des Exports überragt. In den letzten 
Lahren betrug diese Passivität sogar im Durchschnitte 2 Millarden Mark. Indessen 
läßt sich aus dieser allgemeinen Angabe für das Vordringen ODeutschlands auf dem Welt- 
markte gar nichts entnehmen. Bielmehr mühssen sich alle Untersuchungen an die Vier- 
teilung der Handelsgruppen anschließen: 1. Kohstoffe für Industriezwecke (einschließlich 
) Vgl. B. Harms, Weltwirtschaftliche Aufgaben Deutschlands; ein Vortrag; Veröffentlichungen des 
Bundes der Industriellen, Heft 1, April 1912. 
  
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