VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 227
und in der Textilinduftrie. Hier, wo uns nur die letzte Produktionsstufe interessiert,
in der die Verfeinerung für den Konsum vorgenommen wird, würde es sich also darum
handeln, daß die Selbständigkeit dieser Produktionsstufe durch Angliederung an die
vorausgehende Halbfabrikatherstellung verloren geht oder sich eine Firma der Fertig-
warenindustrie die Halbstoffproduktion angliedert, um vom fremden Lieferanten un-
abhängig zu werden. Im allgemeinen hat die vertikale Kombination viel häufiger in
der Vereinigung von Firmen der Rohstoff- und Halbzeugfabrikation bestanden, während
die Fertigwarenproduktion selbständig blieb. Ihr individualisierter unabhängigerer Charak-
ter, von dem wir oben sprachen, kam auch darin zum Ausdruck. Zedoch mit Ausnahmen:
von der uns hier interessierenden Branche berichtet Großmann, daß sich die „Glashütten
auch mit der Glasveredelung zu befassen begannen“ oder daß „die größeren Glasraffineure
cine eigene Hütte erbauten, um so von den Rohglasproduzenten unabhängig zu werden.
In derselben Weise vollzog sich die Vereinigung verschiedener Produktionsstadien in der
Spiegelfabrikation. Um sich die nötigen Rohstoffe auf billigerem Wege als von den
meist kartellierten Produzenten derselben zu beschaffen, haben sich dann auch in den
letzten Fahrzehnten einzelne Betriebe Torf- und Kohlengruben, Sodafabrikation, Sand-
gruben und andere Unternehmungen angegliedert“. (Großmann, S. 80.)
c) Lederindustrie. Eine Industrie, in der sich in den letzten 25 Jahren der über-
- gang vom Klein- zum Großgewerbe in geradezu topischer
Form vollzogen hat, ist die Lederindustrie ).
A#Auch in ihr ist aber diese Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen, macht aber
beständig Fortschritte. Vor allem war die Chromgerberei von Anfang an nur in Groß--
betrieben ausführbar. Aber auch die Üübrigen Zweige der Gerberei haben aus der zeit-
sparenden und die Erzeugungsmenge steigernden Maschinenanwendung große Vorteile
gezogen; dazu kommt, daß die Markterweiterung mit ihren Konjunkturschwankungen
auch in diesem Industriezweige immer mehr ein kaufmännisch tüchtiges Unternehmertum
voraussetzte. Während sich die Lederindustrie darin als typisches Halbstoffgewerbe er-
weist, daß die Kartellbestrebungen immer erfolgreicher in ihr auftreten, unterscheidet
sie sich doch wieder darin, wie Zulius Trier darlegt, von anderen Industrien dieses Pro-
duktionsstadiums, daß sie wenig Spezialisation aufweist und Kombinationen mit ihren
Hauptabnehmern, den Schuhfabriken — aus technischen, von Trier näher aufgewiesenen
Gründen (S. 79) — sehr selten sind. Häufiger finden sich Kombinationen mit der Satt-
lerei. Mögen ferner in der Lederindustrie auch die Mittelbetriebe noch häufig sein, so“
zeigt doch z. B. die bedeutende Firma Carl Simon Söhne in Kirn an der Nahe, die außer
in Böhmen auch in Madras (Vorderindien) eine Filiale besitzt, welchen Vorsprung die
Großunternehmung in diesem Gewerbezweige, der so lange Zeit als ein typisches Hand-
werk galt, gewähren kann. Zn der Festschrift zu ihrem 50jährigen Bestehen im Jahre
1907 wird erzählt, daß „für die Entwicklung zur Weltfirma der deutsch-französische Krieg
1870/71 die Bahn freimachte. Durch ihn wurde die französische Lederindustrie, die bis
1) Deohalb sei sie hier gestreift. Als ausschließliche Halbstoffindustrie gehört sie, streng genommen,
nicht in diesen Zusammenhang.
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