Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Industrie. 233 
  
über die großartige Entwicklung der deutschen Industrie seit 1888 auch die Fertigwaren- 
großgewerbe nicht zu übergehen. #hnliche Fortschritte lassen sich in der Konfektion, 
der Fabrikation von Beleuchtungskörpern allerart, den polygraphischen Ge- 
werben und vielen anderen aufweisen. Sehr lehrreich ist schließlich die Entwicklung 
des Baugewerbes. Freilich zeigt sich hier die Tendenz zum Großbetrieb und zur Groß- 
unternehmung nicht immer von ihrer vorteilhaftesten Seite. Die Verquickung von Bau- 
und Terrainspekulation, die Verunselbständigung des Handwerks, die Häufigkeit des 
Bauschwindels sind bedenkliche Begleiterscheinungen gewesen. Doch wäre es falsch, 
über den gelegentlich auftretenden Mängeln zu übersehen, daß auch in diesem Industrie- 
zweige das private Unternehmertum Großartiges geschaffen hat; denn das plötzliche 
und starke Anwachsen der großen Städte, wie es in Deutschland in für Europa sonst nicht 
erreichtem Grade eingetreten ist, stellte das Baugewerbe vor schwere Aufgaben, denen 
die alte Handwerksorganisation nicht gewachsen gewesen wäre. Im einzelnen diese Ent- 
wicklung zu verfolgen, ist ein schwieriges und umfangreiches Thema, das wir in diesem 
Zusammenhang nicht aufrollen können. 
Nehmen wir die deutsche Fertigwarenindustrie als Gesamtheit, so fällt ihre Fülle 
und Bielseitigkeit auf. Sie zeichnet sich durch ihre Anpassungsfähigkeit an wechselnde 
und mannigfaltige Bedürfnisse der Kundschaft vor der ausländischen aus. Dabei gelingt 
es ihr immer mehr, über das Stadium einer Industrie, die sich durch geringere Qualität 
und dadurch geringere Preise neben der englisch-amerikanischen und der französisch- 
belgischen Industrie im Wettbewerb behaupten will, hinauszukommen. In vielen Zweigen 
ist sie längst zur eigentlichen Qualitätsindustrie geworden. Nicht in allen. Bestimmte 
deutsche Waren (z. B. einige, nicht sämtliche Arten der Textilindustrie) werden heute 
vielfach noch von den englischen Erzeugnissen übertroffen. Auch hat die französische 
Luxrusindustrie hier und da noch einen Vorsprung durch ihren guten Geschmack. Doch 
diese Uberlegenheiten sind heute längst nicht mehr in dem Grade vorhanden, wie es 
noch vor 25 Jahren der Fall sein mochte. Das „Made in Germany)“ hat keineswegs 
bloß durch die Billigkeit der Erzeugnisse gesiegt. Das ist auch eine der Lehren moderner 
Weltwirtschaft, daß schließlich die Qualitätsleistung beim Wettbewerb den Sieg davon- 
trägt. Darin liegt für die Zukunft das Ziel der Entwicklung. Zumal beim Export für den 
Weltmarkt, den man nicht so leicht durch Unternehmerverbände beherrschen kann, ent- 
scheidet auf die Dauer die Qualität. Konsumbereite Fertigwaren sind den unausgesetz- 
ten Veränderungen der technischen Vervollkommnung, der Geschmacksänderung, der 
Mode, dem Aufkommen von Ersatzmitteln ausgesetzt; sie haben nicht die größere Ab- 
satzsicherheit der Roh- und Halbstoffe, bei denen man im allgemeinen mit steigendem 
Bedarfe rechnen kann. Rur durch beständige Wachsamkeit, durch gute Handelsbeziehungen, 
möglichst schnelle Ausnutzung neuer Erfindungen und technischer Verbesserungen kann 
sich der Fabrikant der Fertigwaren behaupten. Deutschland steht in der Bielseitigkeit 
seiner Fertigwarenproduktion im Vordergrunde, wenn nicht an der Spitze der Nationen. 
Bielleicht ließe sich auch auf diesem schwierigeren Boden (schwieriger im Vergleiche 
mit der Halbstoffindustrie) noch mehr durch größere Spezialisation und Kombination 
erreichen. Die Aufgaben werden sicherlich wachsen. Doch brauchen wir nicht zu verzagen 
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