Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
238 Der auswärtige Handel. VI. Buch. 
  
fand damals freilich bei den „Anhängern der wohlbewährten Bismarckschen Wirtschafts- 
politik“ so scharfe Kritik, daß schließlich selbst der Opposition um die Folgen ihres radi- 
kalen Gebahrens bange wurde. Auch heute wird an diese „Frühzeit" der Regierung Kaiser 
Wilhelms II. nicht selten nur in dem Sinne erinnert, daß jener „MWMißgriff“ später wieder 
„gutgemacht“ worden sei, während von anderer Seite jenes Wort des Kaisers auch jetzt 
noch als im vollem Umfange zu Recht bestehend erachtet wird. Es mag deshalb auf die 
Ursachen und Folgewirkungen der Caprivischen Handelspolitik, soweit dafür exakte Unter-- 
lagen vorliegen, etwas näher eingegangen werden. Oies rechtfertigt sich auch deshalb, 
weil, wie weiter unten darzulegen sein wird, die deutsche Handelspolitik seitdem an den 
damals aufgestellten Grundsätzen festgehalten hat. 
Politische und wirtschaftliche Gründe. Außer allem Zweifel steht zunächtt, 
daß bei dem Abschluß des österreichi- 
schen Handelsvertrages (und später des russischen) politische Gründe mitgewirkt 
haben und insofern der Vorwurf Bismarcks, daß hier „wirtschaftliche Interessen mit 
den Fragen der auswärtigen Politik vermengt“ worden seien, eine gewisse Berechti- 
gung enthält, wenn aus solcher Vermengung überhaupt ein Vorwurf abgeleitet werden 
kann.:) Ebenso zweifellos steht heute aber fest, daß politische Gründe damals selbst 
gegenüber Osterreich und Rußland nicht in erster Linie wirksam gewesen sind, geschweige 
denn bei den übrigen Verträgen eine nennenswerte Rolle gespielt haben. In der 
Hauptsache drängten wirtschaftliche und soziale Gründe die deutsche Handelspolitik in 
die neue Richtung. Um dies zu illustrieren, sei das Folgende hervorgehoben: 
Mit dem Tarif von 1887 war in Deutschland im Gegensatz zu den Folgewirkungen 
der Maßnahmen von 1879 und 1885 eine merkliche Steigerung der Getreidepreise 
eingetreten. Diese erreichte im Zahre 1891 infolge ungünstiger Ernten in den Haupt- 
erzeugungsländern eine solche Höhe, daß mit gewissem Recht von Teuerungepreisen ge- 
sprochen werden konnte. Der Weizenpreis stieg in Berlin auf 224, der Roggenpreis 
auf 211 M. Abnlich waren auch die Preise der übrigen Agrarprodukte in die Höhe ge- 
gangen. Angesichts solcher Sachlage wurde in Deutschland je länger desto mehr die 
Herabsetzung der Getreidezölle gefordert. Die Reichsregierung lehnte dies jedoch ab, 
weil sie solche Ermäßigung als Kompensationsobjekt bei den von ihr beabsichtigten Ver- 
tragsverhandlungen mit Agrarländern benutzen wollte. Lag in diesen agrarischen Not- 
standspreisen ein triftiger Grund für die deutsche Reichsregierung, in eine Herabsetzung 
der Getreidezölle einzuwilligen, so sind damit keineswegs schon die Motive gekenn- 
zeichnet, die schließlich zu einer langfristigen Bindung des Zolltarifs gegen das Aqui- 
valent der Herabsetzung ausländischer Zndustriezölle führten. Eine Behebung der Teue- 
rung, die im wesentlichen internationale Ursachen hatte, wäre ja auch durch die zeit- 
weilige Herabsetzung der Getreidezölle möglich gewesen. 
1) Aus dem Munde Bismarcks mutete solcher Vorwurf der Vermengung von „hoher“ Politik und Han- 
delepolitik übrigens eigenartig an, denn er selbst hatte hierfür, gerade Osterreich gegenüber, das Beispiel ge- 
geben, als er (die Politik des Ministeriums Manteuffel fortsetzend) im Kampf um die Vormachtstellung im 
deutschen Bunde die freihändlerische Richtung im Zollverein stärkte, um den Eintritt Osterreichs in den Zoll- 
verein unmöglich zu machen. 
  
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