264 Der auswärtige Handel. VI. Buch.
Diese Zahlen zeigen aber auch, welche Bedeutung die europäischen Handels-
verträge für die deutsche Ausfuhr haben. Unter diesem Gesichtswinkel tritt die
seit Caprivi befolgte Handelspolitik erst in die richtige Beleuchtung. Der Schwerpunkt
unserer aktiven Handelsbeziehungen liegt durchaus in Europa, woraus sich von selbst
ergibt, daß die deutsche Handelspolitik dem vor allem Rechnung zu tragen hat.
Oie Frage ist nun, ob dies durch die neueste Wendung unserer Handelspolitik ge-
nügend geschehen ist! Die Antwort fällt, gemessen an der Handelsbewegung der letzten
6 Jahre, im ganzen bejahend aus (vgl. Tabelle, S. 261). Der Tarif von 1902 (in Kraft
seit 1906) hat die Weiterentwicklung der deutschen Ausfuhr nicht aufgehalten. Es zeigt
sich auch hier wieder, daß die langjährige Bindung der Tarife, wie sie durch die Vertrags-
politik bedingt wird, bedeutungsvoller für den Außenhandel ist als es die Tarife selbst sind.
Esist allerdings zu bedenken, daß in die Vergleichsjahre zwei ungewöhnlich günstige Welt-
marktkonjunkturen fallen. Im Krisenjahre 1908 haben die erhöhten Auslandszölle sofort
ihre Wirkung getan; es ist auch anzunehmen, daß bei künftigem Nachlassen der gegenwär-
tigen günstigen Konjunktur ein Gleiches in die Erscheinung tritt. Im ganzen aber
wird hierdurch das günstige Urteil über die Wirkungen des Tarifs von 1902 nicht beein-
flußt. Im einzelnen hat der Tarif freilich empfindliche Hemmungen der Ausfuhr
mit sich gebracht. Es würde aber zu weit führen, die hiervon betroffenen Industrie-
zweige an dieser Stelle zu schildern. Wir müssen uns hier mit der Darstellung des Ge-
samtbildes begnügen, und dieses tritt bisher recht günstig in die Erscheinung. A#llerdings darf
nicht verkannt werden, daß es innerhalb der deutschen Industrie ganz enormer Anstrengun-
gen bedurft hat, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Die Rationalisierung der
Betriebe hat sozusagen bis zum „Präzisionsapparat“ fortgeführt werden müssen. Ganz
zweifellos ist hier vorläufig eine Grenze erreicht worden, die nicht mehr weit überschritten
werden kann.
Es ist deshalb zu verstehen, wenn die am Export interessierte Industrie der künf-
tigen Entwicklung der Dinge mit Sorge entgegensieht. Hat sie schon unter selten günstigen
internationalen Konjunkturverhältnissen alle Nerven anspannen mühssen, so ist nicht von
der Hand zu weisen, daß der geringste Rückschlag auf dem Weltmarkt ihre Position
schwer erschüttern kann. Dazu kommt, daß Bestrebungen im Gange sind, vor allem
den agrarischen Tarif das nächstemal „lückenlos“ zu gestalten, d. h. nicht nur die Futter-
mittelzölle in jetziger Höhe beizuhalten, sondern daneben die bisher zollfreien Positionen
zu beseitigen. Auch die gelegentliche Agitation auf Erhöhung der Brotgetreidezölle
ist geeignet, die Industrie zu beunruhigen. Sollten diese Bestrebungen sich auch nur
zum Teil verwirklichen, so würde dies aufs neue zu einer Steigerung der Kosten des
Lebensunterhalts in Deutschland führen, die in der Tat zu ernsten Bedenken Anlaß
gäbe. Die Arbeiter würden mit neuen Lohnforderungen kommen, die im Preise der
Industrieprodukte ihren Ausdruck fänden und die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt
schwächten. Die Bertragsstaaten würden zudem mit weiteren Zollerhöhungen folgen,
die in ihren Wirkungen garnicht abzusehen wären. Es gibt für die Belastung
einer Industrie, die auf den Weltmarkt angewiesen ist, unter allen Um-
ständen Grenzen. Zahlreiche Anzeichen sprechen dafür, daß diese Grenze in Deutsch-
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